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Mit dem Ansturm von Flüchtlingen wird deren Potenzial für den deutschen Arbeitsmarkt diskutiert.

© dpa/Axel Heimken

Deutschland und die Flüchtlinge: Das Potenzial der Zufluchtsuchenden

Vor allem Syrer, Iraker, Afghanen und Pakistaner wollen jetzt zu Tausenden nach Deutschland. Doch wer sind die Flüchtlinge überhaupt?

In diesem Jahr kommen nach Schätzungen der Bundesregierung zwischen 800.000 und eine Million Flüchtlinge nach Deutschland. Jetzt beginnt die Diskussion darüber, wie diese integriert werden können und welche Chancen sie auf dem Arbeitsmarkt haben.

Woher kommen die vielen Schutzsuchenden?
In den Statistiken schlägt sich die aktuelle Entwicklung der Flüchtlingskrise noch nicht nieder. Wer in den vergangen Tagen und Wochen nach Deutschland kam, wurde zunächst nur provisorisch registriert, die offizielle Aufnahme ins Asylverfahren wird noch dauern. Und erst dann tauchen die Neuankömmlinge als Asylbewerber in den offiziellen Statistiken auf.

Alle Berichte über die nun über Ungarn und Österreich einreisenden Schutzsuchenden zeigen jedoch, dass es sich vor allem um Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien und dem Irak handelt sowie um Afghanen und Pakistaner. Das deckt sich nur zum Teil mit den Daten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), das die Asylanträge aller Zufluchtsuchenden bearbeitet. Im August wurden demnach etwas mehr als 10.000 Asylanträge von Syrern gestellt, gefolgt von Albanern (8200), Afghanen (2300), Irakern (1700), Serben (1400) und knapp tausend Eritreern.

Da die Anträge oft erst Wochen nach der Einreise erfasst werden, geben die BAMF-Zahlen Veränderungen nur zeitverzögert wider. Nichtöffentliche Daten des Bundesinnenministeriums über die Erstregistrierung zeigen dagegen, dass die Zahl Flüchtlinge aus Staaten des westlichen Balkans inzwischen deutlich nachgelassen hat.

Gibt es unter den Migranten viele, die sich falsche Identitäten zulegen?
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) will keine Zahlen nennen, spricht aber von einem Problem. Auch sein bayerischer Amtskollege, Joachim Herrmann (CSU), hat darauf verwiesen. Es geht um Flüchtlinge, die sich als Syrer ausgeben, mutmaßlich aber keine sind.

Konkrete Zahlen, ob es sich um Einzelfälle oder mehr handelt, gibt es nicht, jedoch klare Indizien: Es falle auf, dass in den vergangenen Tagen die Hälfte der Flüchtlinge, die zur deutsch-österreichischen Grenze kamen, keine Papier dabei hatten, erklärt ein eng mit dem Thema vertrauter hochrangiger CDU-Politiker. Viele gaben sich dennoch bei Registrierungen als Syrer aus. Sicherheitsexperten sind auf dieses Problem ebenfalls aufmerksam geworden.

Allerdings gebe darunter auch Flüchtlinge, bei denen rasch zu erkennen sei, dass sie „Scheinsyrer“ sind, auch wenn sie etwas anderes behaupten. Wenn jemand mit dunkler Hautfarbe komme, stamme er offenkundig aus Afrika und nicht aus Syrien. Bei anderen Flüchtlingen sei angesichts der Sprache schon wahrscheinlich, dass sie trotz gegenteiliger Angaben keine Syrer sein könnten. „Wenn jemand Paschtu spricht, ist eine Herkunft aus Afghanistan oder Pakistan anzunehmen“, sagte einer der Experten. Syrien dürfte da in der Regel auszuschließen sein.

Welchen kulturellen und familiären Hintergrund haben die Menschen?
Syrien und der Irak galten in der arabischen Welt lange als Staaten mit relativ aufgeklärten Gesellschaften. Weder Syrien unter der Herrschaft der Assad-Familie noch der Irak unter Saddam Hussein waren freilich Demokratien.

Doch im Vergleich zu anderen Ländern in der Region konnten Mädchen und Frauen hier beispielsweise problemlos zur Schule gehen und arbeiten. Verschleierte Frauen sah man in den Straßen von Damaskus und Bagdad eher selten. Im Irak hat sich das seit dem Sturz Saddam Husseins geändert, was nicht zuletzt dem stärkeren Einfluss schiitischer Kräfte im Land geschuldet ist.

Grundsätzlich leben in beiden Staaten vor allem Muslime, unter den Flüchtlingen sind aber auch viele Angehörige der religiösen Minderheit der Jesiden. Beim Irak machen diese sogar rund zwei Drittel der Flüchtlinge aus. Afghanen und Pakistaner, die ebenfalls verstärkt kommen, haben eher einen islamisch-konservativen Hintergrund.

Flüchtlinge von dort sind außerdem meist deutlich ärmer und schlechter ausgebildet als Iraker oder Syrer, die in Fernsehberichten oft in Englisch Auskunft geben. Dass dort auffallend viele junge Männer zu sehen sind, ist keine Überraschung. Insgesamt sind rund zwei Drittel aller Flüchtlinge Männer, in der Altersgruppen zwischen 18 und 35 Jahren sind es sogar drei Viertel.

Und diese Gruppe ist besonders groß. Nach Angaben des Bundesamts für Migration waren im ersten Halbjahr 2015 mehr als die Hälfte der Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan zwischen 18 und 35 Jahre alt. Auch viele Kinder sind unter den Flüchtlingen. Bei Afghanen und Irakern machten sie im ersten Halbjahr 2015 mit je rund 2600 etwa ein Viertel der Gesamtzahl aus, bei Syrern mit 8000 gut ein Fünftel.

Welche Qualifikationen bringen die Flüchtlinge mit?
Das ist im Moment schwer einzuschätzen, es liegen nur lückenhafte Daten vor. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) will das ändern: Künftig soll bei allen Asylbewerbern die Qualifikation erhoben werden. An manchen Orten passiert das schon jetzt: So schicken die Arbeitsagenturen in Niedersachsen Berater in die Erstaufnahmeeinrichtungen, um dort die Eignung von Asylbewerbern für den deutschen Arbeitsmarkt festzustellen.

Praktikum, Ausbildung und dann einen Job? Die Wirtschaft wünscht sich mehr Flüchtlinge als qualifizierte Arbeitskräfte.
Praktikum, Ausbildung und dann einen Job? Die Wirtschaft wünscht sich mehr Flüchtlinge als qualifizierte Arbeitskräfte.

© Friedhelm Loh Group/dpa

Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt zum Ergebnis, dass bei Flüchtlingen mittlere Qualifikationen kaum vorhanden sind, sondern es eine größere Gruppe von Personen mit höherer Schulbildung oder Uniabschluss gibt – aber auch viele Personen ohne Berufsausbildung. Bei der aktuellen Zuwanderungswelle gebe es einen hohen Anteil an Geringqualifizierten, sagt IAB-Direktor Joachim Möller. „Neun von zehn Menschen, die als arbeitssuchend registriert werden, haben keine verwertbare oder vorweisbare Qualifikation.“

Das könne allerdings auch daran liegen, dass die Abschlüsse noch nicht anerkannt wurden oder dass die Betroffenen aus Ländern kämen, in denen Zertifikate nicht so eine große Rolle spielten wie in Deutschland.

Kann mit ihrer Hilfe der Fachkräftemangel in Deutschland behoben werden?
Unter den Flüchtlingen gibt es etliche Fachkräfte. In einem Modellprojekt versucht die Bundesagentur für Arbeit (BA), diese frühzeitig zu erkennen und fit für den deutschen Arbeitsmarkt zu machen. Teilnehmer des Projekts „Early Intervention“ wurden schon erfolgreich vermittelt, beispielsweise als Elektriker, Tischler, Anlagenmechaniker oder auch als Bäcker.

Wirtschaftsvertreter und Arbeitgeberverbände fordern seit Monaten, für Flüchtlinge den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dazu gehören ein Bleiberecht für Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung ebenso wie das Aussetzen der Vorrangprüfung. Diese sieht vor, dass zunächst geschaut werden muss, ob sich für eine Stelle ein Bewerber mit deutschem oder EU-Pass finden lässt. Erst nach 15 Monaten Aufenthalt in Deutschland entfällt diese Prüfung.

Arbeitsministerin Nahles warnt allerdings zugleich vor der Erwartung, das deutsche Fachkräfteproblem allein durch Flüchtlinge lösen zu können. In ihrem Ministerium geht man davon aus, dass absehbar nur jeder Zweite in Arbeit vermittelt werden kann. Viele der Menschen, die zu uns kommen, landen dann voraussichtlich doch erst einmal in Hartz IV. Für 2019 erwartet die SPD-Politikerin bis zu eine Million zusätzliche Hartz-IV-Empfänger.

Was muss getan werden, um die Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt zu integrieren?
Im Moment fehlen vor allem Sprachkurse: Viele Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien oder aus anderen Ländern sprechen kein Deutsch. Problematisch sind allerdings auch die Anerkennungsverfahren von Berufs- oder Schulabschlüssen, die in Deutschland langwierig sind. „Das kann Monate dauern“, sagt Christian Sprenger, der bei der Bundesagentur für Arbeit für das Modellprojekt „Early Intervention“ zuständig ist.

Zumal viele Flüchtlinge keine Unterlagen über ihre Abschlüsse dabei haben. Wenn sie aus Bürgerkriegsgebieten kommen, ist es für sie äußerst schwierig, diese Papier zu besorgen. „In Syrien kann es sein, dass es die Schule oder die Uni nicht mehr gibt, an der jemand seinen Abschluss gemacht hat“, sagt Sprenger.

Vor besonderen Herausforderungen stehe man bei Menschen, die ihre Kenntnisse „informell“ erworben haben, sagt er. „Etwa bei dem jungen Afrikaner, der zehn Jahre in der Autowerkstatt seines Vaters gearbeitet hat. Der hat bestimmt eine Menge gelernt, kann aber keinen Abschluss vorweisen“, sagt er. Da müsse man erst einmal einen passenden Arbeitgeber finden. „Viele Arbeitgeber sind nach wie vor auf formale Abschlüsse fixiert. Sie wollen Zeugnisse sehen, bevor sie jemanden einstellen.“

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