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Harald Martenstein.

© picture alliance / dpa

Flüchtlinge und Hilfsbereitschaft: Grundrechte haben Grenzen

Es ist unmöglich, sich moralisch hundertprozentig korrekt zu verhalten. Auch in der Flüchtlingsfrage muss man einen Mittelweg finden. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Harald Martenstein

Der Philosoph Peter Singer hat einmal versucht, zu erklären, wie moralisches Handeln aussieht. In einem Dorf in Afrika herrscht eine Hungerkatastrophe. Familie Schmidt, weder arm noch reich, lebt in Europa, hat zwei Kinder und besitzt eine kleine Eigentumswohnung. Ein auf den ersten Blick über jeden Zweifel erhabenes Handeln könnte so aussehen, dass die Schmidts ihre Wohnung verkaufen, das Geld überweisen und auf diese Weise sehr viele Dorfbewohner retten. Die Familie sinkt dadurch unter die Armutsgrenze. Sie lebt aber in einem Land mit funktionierendem Sozialsystem, sie muss nicht hungern.

Dieses Beispiel hat allerdings ein paar Tücken. Wenn in ihrem Land alle so handeln würden wie die Schmidts, dann würde das Sozialsystem in ihrer Heimat zusammenbrechen, und es gäbe auch dort Hunger. Und was ist mit den Kindern? Ist es nicht moralisch fragwürdig, dass die Familie ihre Kinder in die Armut stößt und ihre Zukunftschancen verbaut?

Solche Beispiele sind konstruiert, sie dienen dazu, sich über Grundsatzfragen klar zu werden. Es ist nahezu unmöglich, sich in ethischen oder moralischen Fragen hundertprozentig korrekt zu verhalten. So, wie alle Grundrechte Grenzen haben, sogar das Recht auf Leben – schließlich gibt es in fast jeder Demokratie eine Armee –, so stößt auch jedes moralische Prinzip an Grenzen.

Muss ich allen Hilfsbedürftigen in gleicher Weise helfen?

Muss ich allen Hilfsbedürftigen in gleicher Weise helfen, oder ist es vertretbar, Unterschiede zu machen? Ist es zum Beispiel richtig, bei einer Schiffskatastrophe denjenigen als ersten zu retten, der zufällig vorbeitreibt, oder dürfte ich mein Kind oder meinen Freund bevorzugen?

Der Philosoph Michael Sandel hat dazu gesagt: „Wir sind allen hilfsbedürftigen Menschen auf der Welt verpflichtet. Dennoch gibt es eine spezielle Verpflichtung für jene, mit denen uns etwas verbindet. Wir haben eine besondere Verpflichtung gegenüber unseren Familien, unseren Nachbarn und unseren Mitbürgern.“ Diese besondere Verpflichtung hängt damit zusammen, dass Menschen immer Teil einer Gemeinschaft sind. Wer es ignoriert, Teil einer Gemeinschaft zu sein, ist kein besonders wertvoller Mensch, sondern ein Vertreter des schrankenlosen Individualismus. Für ihn zählt in Moralfragen nur die eigene Wohlanständigkeit, ohne Rücksicht auf die Folgen für seine Nächsten.

Was folgt daraus für das Flüchtlingsproblem? Ich finde, man muss sowohl den Egoismus der Pegida-Leute ablehnen als auch die gegenteilige Haltung, die heißt: Für Einwanderung und das Asylrecht gibt es keine Grenzen. Das sind zwei Seiten einer Medaille, beides ist rücksichtslos und asozial. Man muss in solchen Fragen immer abwägen und einen Mittelweg finden, der weder herzlos ist noch die Gesellschaft in unlösbare Probleme stürzt.

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