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Berlin: Karl-Heinz Grundmann (Geb. 1941)

Ein Konservativer. Aber eine Festanstellung? Unvorstellbar!

Vor zehn beginnt er seinen Tag nie, wenngleich er ihn gründlich nutzt. Denn ab zehn ist jede Stunde streng strukturiert. Er steht auf, kocht sich einen Kaffee, macht sich fertig, es ist um zwölf. Er läuft los, nimmt den gewohnten Weg von Charlottenburg in Richtung Gendarmenmarkt bis zum Deutschen Dom. Das Haus hat längst geöffnet, eine Besuchergruppe steht bereit, sich von einem Fachmann durch die Ausstellung „Wege-Irrwege-Umwege. Entwicklung der parlamentarischen Demokratie in Deutschland“ führen zu lassen. Der Fachmann ist Karl-Heinz Grundmann, die Besuchergruppe heute ein schwatzender Haufen Schüler. Sie beginnen den Rundgang, erklimmen Ebene für Ebene des Kuppelbaus, von der Revolution 1848/49 über die Weimarer Republik, den NS-Staat und die DDR, Karl-Heinz Grundmann erklärt, streut Anekdoten ein, verzichtet auf aufgeblasene, leere Sätze, nur ein einzelner Witzbold noch kneift einem Mädchen in die Seite, das Mädchen kichert, die anderen Schüler haben das Schwatzen aufgegeben.

An manchen Tagen hat er drei, sogar vier Führungen, kultivierte Rentner, Parteigruppen, Touristen. Eine fest gefügte Rede spult er nie ab, eher sind es Betrachtungen zu den jeweiligen Themen, oft mit aktuellen Bezügen, Diskussionen entstehen, Kontroversen, einige Besucher beschweren sich über diesen Mann, der doch unverschämterweise eine andere Meinung hat.

Aber Karl-Heinz Grundmann ist kein Amateur, sondern promovierter Historiker, der nicht aus einer Laune heraus irgendetwas meint. Immer stellt er sich diese Frage: Wo kann ich Einfluss nehmen? Links soll es nicht sein, da ist er sich sicher, schon seit den Sechzigern. Er hielt es eher mit Dahrendorf als mit Dutschke, mit der FDP, aus der er aber, als die es mit der CDU hielt, austrat. Revolutionen befindet er für falsch, sein konservativer Standpunkt jedoch ist nie erstarrt.

Obwohl. Die Struktur seiner Tage ist kaum aufzubrechen; auch wenn die Vormittage sanft verstreichen – dafür geht er auch erst mitten in der Nacht ins Bett. Es ist, als konserviere er einen Teil des vergangenen studentischen Lebens. Eine Festanstellung, acht Stunden täglich, unvorstellbar. Er will sein Leben selbst bestimmen, die Dinge kontrollieren. Wenn er aus dem Dom nach Hause kommt, guckt er, immer, zuerst die Abend- und im Anschluss die Tagesschau. Und sollte das Telefon zu dieser Stunde doch einmal klingeln – die Freunde sind allesamt in seinen Zeitplan eingeweiht –, dann klingelt es eben. Ähnlich das Wochenende. Bevor er sonntags nicht die Zeitung studiert hat, verlässt er nie das Haus. Die Zeitungslektüre ist gründlich, immer mit einer Schere in der Hand. Ohne Schere kann er überhaupt nicht lesen. Jeden Artikel, der von Interesse ist, schneidet er aus. Zum Beispiel jene über die Beziehungen zwischen Staaten in Ostafrika. Für jede Rubrik gibt es einen Ordner. Auf diesem hier steht: „Burundi–Ruanda ab 1996“.

Man bezeichnet ihn als Kolonialhistoriker. Mit der deutschen Kolonialgeschichte setzt er sich besonders umfassend auseinander. Er bereist China, Samoa, Namibia, ist ein gefragter Gesprächspartner zum Thema, hält Vorträge. Weitere Spezialgebiete sind die Verbindungen zwischen Deutschland und dem Baltikum und die NS-Zeit.

Dabei hat er anfangs keineswegs den Weg eines Akademikers eingeschlagen. Sein Vater starb früh und so übernahm er nach einer Banklehre die elterliche Fabrik für Autozubehör in Essen. Und stand früh auf und ging zeitig zu Bett. Acht Jahre lang leitete er den Betrieb, dann entschloss er sich zum Verkauf und studierte. Er las, schrieb Artikel, sammelte Bücher, segelte über das Rote Meer, schloss Freundschaften.

Für den heutigen Sonntag ist er durch mit den Zeitungen, jetzt kann er sich verabreden. „Ich habe folgende Vorschläge“, sagt er zu einem Freund und zählt ein paar Filmtitel auf. Am liebsten sind ihm die Spätvorstellungen. Nach dem Kino gehen sie für eine Apfelschorle und ein alkoholfreies Bier in den „Zwiebelfisch“, und als sie dort aufbrechen, ruft ihnen die Dame hinterm Tresen zu: „Da habt ihr aber wieder zugeschlagen!“

Er bestimmt die Zeiten für die Treffen; manchmal sieht er Freunde ein halbes Jahr lang nicht. Wenn er sie trifft, meist einzeln, ist er ganz für sie da.

Und sie für ihn. Vor allem die letzten sieben Monate. Karl-Heinz Grundmann hat Krebs. Die Freunde begleiten ihn zum Arzt, pflegen ihn, organisieren seine Trauerfeier, die er zuvor bis ins Detail plant. Selbstbestimmung bis zum Schluss. Eine Grabstelle möchte er nicht, wer weiß schon, ob sich jemand darum kümmern wird.

Am 9. Oktober wurde seine Asche vor Hooksiel in die Nordsee gestreut.

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