zum Hauptinhalt
Das Beispiel Daniel Barenboim. Im West-Eastern Divan Orchestra, das der Dirigent gegründet hat, spielen junge arabische und israelische Musiker miteinander. In Berlin-Mitte entsteht dafür auch der Konzertsaal der Barenboim-Said-Akademie.

© dpa

Serie: Kultur und Flüchtlinge: Das Europa der Toleranz

Deutschland hat nach dem Zweiten Weltkrieg kulturpolitische Kompetenz entwickelt. Doch bei der Integration der Muslime ist manches schiefgegangen

„Wir spüren, dass die Ereignisse der vergangenen Monate außergewöhnlich sind. Was wir ahnen, wenn wir die Bilder sehen, dass wir es mit einem epochalen Ereignis zu tun haben, dessen Ausmaß und Tragweite wir noch schwer erfassen können“, so emphatisch hat es Bundespräsident Joachim Gauck formuliert und auf die Bilder der Flüchtlingszüge reagiert. Dieses „epochale Ereignis“ geht uns alle in Europa an. Allemal fordert es deutsche wie europäische Kulturpolitik konzeptionell erneut heraus.

Aber wie? Einige Politiker melden sich erneut mit dem Ruf nach einer „Leitkultur“ zu Wort, um die Dominanz des Deutschen in Deutschland gegenüber den Fremden zu betonen; andere äußern sich differenzierter. Doch mit fertigen oder gar überzeugenden Antworten kann noch keiner dienen.

Was könnte oder müsste Kulturpolitik heute leisten, um nicht wiederum zu versagen? Es muss nämlich konstatiert werden, dass sie die damalige Aufgabe, die türkischen Muslime zu integrieren, nicht bewältigte: Es entstanden Parallelgesellschaften in Deutschland, in denen nicht nur die eigenen kulturellen Traditionen und die muslimische Religion gepflegt wurden, sondern weitgehend eine Werteordnung herrscht, die nicht mit dem Geist unseres Grundgesetzes vereinbar ist. Die Gesellschaft hat diese innereuropäische urbane Entwicklung beobachtet, doch zunächst keine angemessene Antwort darauf gefunden. Was tun wir heute soziokulturpolitisch, um diese Parallelgesellschaften durch den Zustrom der nicht christlich geprägten Flüchtlinge nicht letztlich dominant werden zu lassen?

Kulturpolitik in Europa und Deutschland muss nicht neu erfunden werden.

Natürlich klingt es gut, wenn Daniel Barenboim in Berlin vorschlägt, dass wir „unsere großartige deutsche Kultur“ den Neuankommenden „zum Teilen anbieten“ sollen; und zwar „nicht niedrigschwellig“. So wünschenswert das wäre, so unrealistisch ist es jedoch. Es hat in den europäischen Großstädten ernsthafte Versuche gegeben, in die fremden Parallelgesellschaften mit realen Integrationsangeboten einzudringen. Es muss jedoch angemerkt werden, dass diesen Bemühungen nur sehr mäßige Erfolge beschieden waren. Die Analysen der Stadtsoziologen im Blick auf bestimmte Urbanviertel in Paris und Berlin belegen das.

Wenn wir das Entstehen und Wachsen von weiteren ethnischen Ghettos durch die vielen Flüchtlinge nicht wollen – und darin muss sich die deutsche Gesellschaft einig sein –, müssen wir unsere Dialogangebote deutlich und aktuell, vielleicht auch methodisch neu justieren; selbstverständlich auf der Grundlage unserer europäischen Werteordnung! Es muss sich ein beiderseitiger Lernprozess in dieser Krise – und das ist das griechische Wort für Diskussion – im kreativen Dialog entwickeln mit dem Ziel der Integration der neuen Fremden in die Gesellschaft der Europäer.

Hermann Glasers Forderung „Kultur als Bürgerrecht“ taugt auch heute noch

Ein kulturpolitischer Rückblick kann für den nun erforderlichen Lernprozess nützlich sein. Doch hilft es gegenwärtig nicht, auf die aktuellen Herausforderungen mit dem alten Motto des erfolgreichen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann „Kultur für alle“ zu reagieren, wie es vor einigen Wochen trotz aller Skepsis Tim Renner und Thorsten Schäfer-Gümbel im Tagesspiegel diskutierten (siehe Ausgabe vom 23. Oktober 2015). So griffig diese Parole klingt, so wenig hilfreich scheint sie mir heute selbst in der Loccumer Erweiterung „… und von allen“. Eher taugt heute noch Hermann Glasers weiter reichende Forderung, „Kultur als Bürgerrecht“ zu verstehen, worauf letztlich auch die Schlussfolgerung der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ des Deutschen Bundestages, Kultur als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, hinausläuft.

Das „epochale Ereignis“, von dem Joachim Gauck sprach, stellt zwar eine bislang nicht gekannte Herausforderung dar, doch erfordert es unsererseits keineswegs eine Abkehr von bewährter europäischer Kulturpolitik. Ihre Grundidee, die Vielfalt zu gestalten, bleibt stabil, Kulturpolitik in Europa und Deutschland muss nicht neu erfunden werden.

Was haben wir mit dieser Überlieferung den in unserem Land Neuankommenden zu bieten? Unsere Erfahrungen in der Nachkriegsepoche von einer erfolgreichen kulturellen Demokratie. Sie nahm europapolitisch ihren Anfang mit der Kulturkonvention des Europarats (1954) und brachte schließlich mit dem Durchbruch von Arc-et-Senans (1972) eine neue, dynamische und offene Kulturpolitik mit dem Kernsatz „Kulturpolitik kommt ohne ethische Begründung nicht aus“. Kein Land hat stärker als Deutschland europäisches kulturpolitisches Denken in sein eigenes Handeln integriert.

Toleranzkultur bedingt einen Prozess des „Brückenbauens“ (Bundespräsident Gauck)

Kulturpolitik ist Gesellschaftspolitik. „Es sind alle Umstände zu fördern, die die Kreativität und soziokulturelle Fantasie begünstigen; kulturelle Unterschiede sind anzuerkennen und zu unterstützen“, formulierte der Europarat schon 1972. Sollte das nicht auch gelten für die mit dem Reichtum ihrer Kulturen hier neu angekommenen Fremden?

Neue kreative Allianzen sind möglich. Die ständig wachsende Vielfalt der Kulturen in Deutschland als Reichtum zu akzeptieren, bedarf allerdings eines hohen Maßes an Dialogbereitschaft, beiderseits. Ich spreche von einer Toleranzkultur; sie sollte basieren auf der Achtung des europäischen kulturellen und kulturpolitischen Erbes und einer kreativen Akzeptanz der Kulturen der Fremden. Erinnert sei an die verschiedenen Toleranzedikte in Europa, die zu Leuchttürmen der Verwirklichung von Menschenrechten wurden.

Toleranzkultur bedingt einen Prozess des „Brückenbauens“ (Gauck), der primär Aufgabe der Zivilgesellschaft sein wird. Der zu entwickelnden Toleranzkultur steht heute eine militante Intoleranz gegenüber, die uns beispielsweise in den Pegida-Demonstrationen und der Partei Alternative für Deutschland (AfD) begegnet, ebenso wie beispielsweise im Front National in Frankreich. Doch Toleranzkultur entspricht dem europäischen Lebensstil – allerdings auch mit seinen Grenzen im Integrationsprozess. Das muss uns realistisch bewusst sein.

Olaf Schwencke lehrt Politik- und Europawissenschaften an der FU Berlin, war Bundestags- und Europa-Abgeordneter (SPD) und Präsident der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm „Europa. Kultur. Politik“ (Klartext Verlag).

Bisher sind in unserer Reihe „Kultur und Flüchtlinge“ Texte erschienen von Klaus-Dieter Lehmann (Goethe-Institut), Friederike Fless (Deutsches Archäologisches Institut), Thomas Oberender (Berliner Festspiele), Hortensia Völckers (Bundeskulturstiftung) Katharina Narbutovic (Berliner DAAD-Künstlerprogramm), Ursula Seiler-Albring (Institut für Auslandsbeziehungen), Berlinale-Chef Dieter Kosslick und Bernd Scherer, Intendant des Hauses der Kulturen der Welt.

Olaf Schwencke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false