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Angela Merkel und die Flüchtlingsdebatte.

© REUTERS

Gauck, Merkel, Seehofer: Die Grenzen der Flüchtlingsdebatte

Die Debatte über die Grenzen des Zumutbaren muss zurück in die Mitte der Gesellschaft. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Gerd Appenzeller

Immer wieder ist die Fähigkeit der Bundeskanzlerin gerühmt worden, komplexe Sachverhalte analysieren zu können und die Dinge, wie es so schön heißt, vom Ende her zu denken. Bei der Antwort auf die Frage, wie Deutschland so viele Flüchtlinge, noch dazu aus einem fernen Kulturkreis, integrieren könnte, hat diese Fähigkeit versagt – oder Angela Merkel verschweigt uns bislang, wie dieses Ende aussehen sollte. Dabei hat ihr gerade der Vorgänger im Amt, Gerhard Schröder, bestätigt, dass sie in der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 richtig handelte, als sie die Grenze nach Österreich öffnete. Kein Kanzler habe in dieser Situation eine andere Entscheidung treffen können, sagte er. Der Fehler sei gewesen, dass sie die Ausnahme zur Normalität gemacht habe.

Dass sich die Flüchtlingsproblematik durch die Ausreise der meisten Syrer, Iraker und Afghanen in wenigen Jahren von selbst auflöst, weil viele dieser geplagten Menschen nach einem Friedensschluss in ihre Heimat zurückkehren werden, glaubt wohl nicht einmal die Regierungschefin selber, obwohl sie diese Erwartung äußerte. Nun hat der Bundespräsident einen erneuten Versuch gemacht, die Debatte über die Grenzen des Zumutbaren in die Mitte der Gesellschaft zurück zu holen und sie nicht mehr rechten Sektierern wie Pegida und AfD zu überlassen. Gerade weil Angela Merkel im Gegensatz zu Joachim Gauck die Fähigkeit zur großen Rede fehlt, ist der Appell des Bundespräsidenten so wichtig. Denn mit einer so leidenschaftlichen wie wohlbegründeten, öffentlichen Ansprache hätte die Kanzlerin die Stimmung in einer ihr immer noch gewogenen Öffentlichkeit ja selbst durchaus beeinflussen können.

Gibt es ein politisches oder ein moralisches Problem?

Das tut nun Joachim Gauck, auch wenn er gerade nicht einer exakten Obergrenze bei der Zuwanderung das Wort redet und somit demonstrativ verweigert, was die CSU mantrahaft immer wieder verlangt. Aufnahmefähigkeit sei keine magische mathematische Formel, sagte er bereits vor einigen Wochen. Nun ergänzt er, dass Begrenzungsstrategien durchaus „moralisch und politisch geboten“ sein könnten. Denn wenn sich in der Mehrheitsgesellschaft aus Angst und Abwehr erst einmal „eine kollektive Identität entwickelt, die immer nur schreit: das Boot ist voll“, hätten wir als Gesellschaft ein moralisches und nicht mehr nur ein politisches Problem. Wir sind nahe daran. Gauck beobachtet in der öffentlichen Auseinandersetzung eine schnell wachsende Verrohung – nur wer taub und blind ist, könnte das übersehen.

Ein gemaltes Herz in den deutschen Farben und dem Wort "Love" hängt in Sülzhayn (Thüringen) in einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge.
Ein gemaltes Herz in den deutschen Farben und dem Wort "Love" hängt in Sülzhayn (Thüringen) in einer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge.

© dpa

Die Obergrenze des Zumutbaren ist eine subjektive, keine objektive. Skandalöse Übergriffe wie auf der Kölner Domplatte, islamistischer Terror, populistisches Gerede von Politikern, unhaltbare Zustände in Aufnahmeeinrichtungen können diese Grenze nach oben oder unten verschieben, nicht zuletzt auch das Verhalten der Zuflucht Suchenden selbst und unser menschlicher Umgang mit ihnen. Somit ist das Gefühl, ob und wie wir die Herausforderung bewältigen können, kein statisches, sondern ein ambivalentes. Gauck fasst all dies in der Grundformel zusammen, entscheidend sei, dass die Gesellschaft ihren Zusammenhalt nicht verliere, den gemeinsamen Willen, friedlich und demokratisch zusammen zu leben. Darum muss man kämpfen. Dafür müssen Politik und Bürger die Voraussetzung schaffen. Aus dieser Verantwortung darf sich keiner stehlen, nicht die Regierenden, nicht das Volk.

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