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Junge Flüchtlinge.

© dpa

Minderjährige Flüchtlinge in Berlin: 400 Jugendliche fehlen in der Statistik

3100 unbegleitete Minderjährige sind in Berlin angekommen, auf 2700 hat die Senatsverwaltung aktuell Zugriff - doch die anderen sind nicht einfach verschwunden. Es ist komplizierter.

Die Berliner Polizei widmet sich jetzt stärker dem Wohl und Wehe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge (UMF). So weist die Vermisstenstelle des Landeskriminalamtes seit Jahresbeginn gesondert aus, welche Kinder und Jugendlichen, die ohne ihre Eltern nach Berlin geflüchtet sind, plötzlich als vermisst gelten. In ganz Berlin sind es im Laufe des vergangenen Jahres insgesamt rund 5000 Fälle von Kindern und Jugendlichen gewesen, die von Eltern, Lehrern oder Freunden zunächst als vermisst gemeldet wurden. In den Zahlen sind auch die Mehrfachausreißer enthalten.

„In den meisten Fällen kehren die jungen Menschen aber nach ein paar Tagen oder spätestens Wochen wieder nach Hause oder ins Heim zurück“, berichtet Winfrid Wenzel, Kriminaloberrat im LKA-Dezernat, das sich sowohl mit Vermissten als auch mit Delikten an Schutzbefohlenen befasst. Nach der Erfahrung der Beamten sind es oft familiäre Streitigkeiten etwa infolge schlechter Zeugnisse, durch Trennung oder Drogenkonsum, weswegen Pubertierende für ein paar Tage „abhauen“ oder bei Freunden unterkommen.

Bei den jungen Menschen unter 18 Jahren, die es auf eigene Faust aus Eritrea, aus Somalia, aus Vietnam, Afghanistan oder Syrien bis nach Deutschland geschafft haben, verhält es sich indes entscheidend anders. Sie sind zwar vielfach in Notunterkünften der Jugendhilfe untergebracht und Betreuer kümmern sich um sie.

Einrichtungen werden geheim gehalten

Doch es gibt auch zahlreiche Teenies, die monatelang allein auf sich gestellt etwa in Jugendgästehäusern oder in Hostels leben und nur mal zwischendurch von Sozialarbeitern betreut werden. Zudem sind alle beteiligten Behörden wegen der schieren Zunahme der Zugänge schlicht personell überfordert. Allein im vergangenen Jahr kamen 4250 minderjährige Flüchtlinge ohne Begleitung nach Berlin. Bei ihnen gilt besonderer Persönlichkeitsschutz, könnten sie doch attraktive Ziele für Zuhälter, Islamisten oder für Pädophile sein.

Zuletzt nun schreckten Europol-Zahlen die Öffentlichkeit auf, denen zufolge tausende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge allein in Deutschland verschwunden sein sollen. Das sind sie – aber in der überwiegenden Zahl der Fälle allein in der Statistik. So war jüngst in der Öffentlichkeit von 400 jungen, als vermisst geltenden Geflüchteten in Berlin die Rede – weil die Senatsjugendverwaltung angab, aktuell auf 2700 Fälle von insgesamt 3100 Angekommenen im System Zugriff zu haben. Die Lücke sei aber mit mehreren Ursachen zu erklären, erläutert Ilja Koschembar, Sprecher der Senatsjugendverwaltung.

So sind nämlich allein am 1. Januar 2016 mit einem Mal 220 junge Geflüchtete zumindest in der Statistik 18 Jahre alt geworden und damit aus dem UMF-Status herausgefallen. Der Hintergrund: In vielen Ländern spielt das Geburtsdatum nicht so eine Rolle wie in Deutschland, es wird nicht erfasst oder die jungen Leute haben keine Papiere bei sich – so dass die Behörden den Geburtstag dann standardmäßig auf den 1.1. festsetzen.

„Einige der Kinder oder Jugendliche haben auch ihre Eltern wiedergefunden, von denen sie während der Flucht getrennt worden waren“, sagt Koschembar. Oder die jungen Menschen reisen spontan weiter, etwa zu Verwandten nach Schweden. Dann melden sie sich aber manchmal nicht im betreuten Jugendwohnen oder der Notunterkunft offiziell ab. Diese Einrichtungen werden in Berlin zum Schutz der Minderjährigen ohne Eltern geheim gehalten, Zugang ist nur Personal oder Ehrenamtlichen nach strenger Prüfung gestattet.

Kein Verdacht auf Kindesentführung

In Berlin waren 2015 genau 4284 Fälle von zwischenzeitlich vermissten Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren und 1093 Fälle von Kindern unter 14 Jahren polizeibekannt, bevor die jungen Menschen wieder auftauchten. Ähnlich werde es sich mit den Vermissten-Fällen im derzeit unteren zweistelligen Bereich bei den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Berlin verhalten, davon geht Fachmann Winfried Wenzel aus. Es gebe derzeit keinen Verdachtsfall, bei dem beispielsweise eine Kindesentführung vermutet werde. „Möglicherweise erbringt unsere Erfassung auch, dass die alleinreisenden jungen Menschen seltener in der Statistik auftauchen als die typischen Berliner Trebegänger, weil sie in ihren Einrichtungen intensiv betreut werden und dort gar nicht weg wollen.“

Allerdings hofft auch der Kripo-Fachmann, dass es in Deutschland allgemein eine bessere Erfassung und Registrierung auch der jüngsten unter den Flüchtlingen gibt. Mitunter sind nach Erkenntnissen auch des Tagesspiegels die Jugendlichen in den Einrichtungen beispielsweise noch nicht bei der Ausländerbehörde registriert, weil sich auch die Berliner Fachleute des Sozialwesens und die Ehrenamtlichen erst in die enorme Behördenbürokratie in dem neuen Bereich der Flüchtlingsfürsorge einarbeiten müssen.

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