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Brandenburg: Auktion der liegen gebliebenen Utopien

Tausende kommen zum Theaterfestival nach Cottbus. Ein letztes Mal gibt es die „ Zonenrandermutigung“

Von Sandra Dassler

Cottbus. Jeden Abend kurz vor der Dämmerung öffnet sich die Tür eines der schönen Seitenbalkons des Cottbuser Jugendstil-Theaters. Heraus springt ein junger Mann, der aussieht wie Adolf Hitler zur Zeit seines ersten Bartwuchses, und brüllt: „Ich bin nicht Hitler! Keiner nennt mich hier Hitler! Verstanden?!“

Nun sind die Cottbuser von ihrem Theater ja einiges gewöhnt: Beim „Untergang der Titanic“ wurden sie mit Wasser begossen, vor einigen Jahren traten die Profifußballer von „Energie“ einschließlich ihres Trainers Eduard Geyer auf die Bühne. Aber der „kleine Hitler“ lässt die Leute unten auf der Straße jedesmal wieder zusammenzucken.

Nur jene, die in unmittelbarer Nähe des Theaters im „Garten der Sinne“ lustwandeln, nicken hintersinnig. Sie kennen die Szene, weil sie das Gegenwartsstück „Futur de luxe“ von Igor Bauersima schon gesehen haben. Erzählt wird die Geschichte des jüdischen Genforschers Theo Klein, der nachweisen wollte, dass es keine genetischen Ursachen für das Böse oder Gute gibt und deshalb zwei Wesen klonte: eines mit dem Erbgut Adolf Hitlers, das andere mit seinem eigenen. Theos Frau bringt die beiden Jungen zur Welt. Sie wachsen gemeinsam auf und entwickeln sich zum Guten – bis zu jenem Schabbath-Mahl, bei dem ihnen Theo die Wahrheit offeriert. Mit vorgehaltener Pistole zwingt der Hitler-Klon seinen „Vater“, schriftlich zu beeiden, dass er sich künftig nur noch um sein eigenes Wohlergehen und das seiner Familie kümmern wird statt genau dieses aufs Spiel zu setzen, um irgendwie die Menschheit zu erlösen.

„Futur de luxe“ ist eine von 16 Aufführungen – von Oper bis Ballett –, die in den vergangenen eineinhalb Wochen Tausende ins Große Haus am Cottbuser Schillerplatz lockten. Und in allen geht es irgendwie um „Utopien?!“. Das kommt manchmal heiter und leicht daher wie in der deutschen Erstaufführung von Gerd Fuchs’ „Liebesmüh“ oder im Liederabend „Wenn ich einmal der Herrgott wär“. Das wird aber auch zur anstrengenden, weil beklemmend aktuellen, Auseinandersetzung wie mit Büchners „Dantons Tod“ oder mit Heiner Müllers „Der Auftrag“.

Mit der „8. Zonenrandermutigung“ hat der Cottbuser Theaterintendant Christoph Schroth seinem Publikum zum letzten Mal ein Programm der Superlative geschenkt. Der schon zu DDR-Zeiten legendäre Regisseur verlässt das Haus zum Ende der Spielzeit. Ein Schritt, der viele Besucher traurig stimmt und ängstigt.Schließlich wird in Potsdam ein neues Theater gebaut und ob Cottbus dann sein Mehrsparten-Haus erhalten kann – wer weiß? So lange Schroth herrschte, wähnten sich viele Lausitzer sicher. Nicht umsonst hatte er einst den Ausspruch kreiert: „Wo ich bin, ist keine Provinz.“

Umso mehr genießen die Cottbuser und zahlreiche Gäste auch aus Berlin oder Dresden diese letzte „Zonenrandermutigung“. Die Schauspieler machen ihnen das leicht. Bei schweißtreibenden Temperaturen spielen sie auch an unmöglichen Orten wie dem Malsaal oder der Schlosserei bis zur körperlichen Erschöpfung. Und sie beziehen das Publikum in gewohnter Weise mit ein. Schon vor dem ersten Stück werden allabendlich vor dem Theater „liegen geblieben Utopien“ versteigert: ein Säckchen Friedenstaubenscheiß’, etwas Pressefreiheit oder ein Fläschchen Toleranz. Ach ja – die alten Träume der Menschheit! Doch wer Wehmut und Trauer vermutet, sieht sich in Cottbus eines Besseren belehrt. Keine Spur von (N)ostalgie – eher eine nüchterne Bestandsaufnahme. Für die nächsten Tage haben sich denn auch – irgendwie passend, sagen die Schauspieler – viele Grüne aus ganz Deutschland angemeldet, die am Wochenende zum Parteitag in Cottbus weilen.

Wenn sie am Sonntagabend wieder nach Hause fahren, werden Schauspieler, Tänzer, Sänger, Regisseure und Hunderte von Besuchern ihren Intendanten verabschieden. Und der wird verschmitzt lächeln. Als er 1992 vom Berliner Ensemble in die Lausitz ging, sagte er: „Der utopische Gedanke ist verloren gegangen. Ich gebe zu, dass ich mich nach ihm sehne… Der Traum ist eine Theaterfamilie, also Theater und Publikum, die zusammenkommen, die einander was zu sagen haben.“ In Cottbus hat sich Christoph Schroth diesen Traum erfüllt.

Alle Infos im Internet unter:

www.staatstheater-cottbus.de

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