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Begegnungen: Das Obdachlosenhotel

Vor zehn Jahren begann der Verein "Aide à Toute Detresse", das baufällige Haus Stück für Stück zu restaurieren. Heute kommen im Haus Neudorf arme Menschen mit Jugendlichen aus ganz Europa zusammen

Neudorf - Das herrschaftliche Haus in der Uckermark wirkt zwar saniert, aber mitten in einer der strukturschwächsten Regionen Deutschlands einigermaßen verlassen. Wie soll man von hier aus, in der 50-Seelen-Gemeinde Neudorf, gegen die Armut in der Europa angehen, wie es sich der Verein Haus Neudorf bei seiner Gründung vor zehn Jahren zur Aufgabe gemacht hat? „Wir sehen uns nicht als Weltverbesserer“, sagt Mascha Join-Lambert, Geschäftsführerin des Vereins, die das alte Gutshaus eine Autostunde nördlich von Berlin ihr Zuhause nennt. Die Diplompolitologin hat sich seit 1972 dem Kampf gegen Hunger und Elend verschrieben. Sie und ihr Mann Luis sind als freiwillige Mitarbeiter für die internationale Bewegung ATD Vierte Welt (Aide à Toute Detresse) tätig. Und das schon seit 1972.

Vor zehn Jahren begann der Verein, das baufällige Haus Stück für Stück zu restaurieren. „Am Anfang gab es nur die Wände“, beschreibt Kerstin Müller, die Hauswirtschaftlerin, den damaligen Bauzustand. Der Wind pfiff durch die klapprigen Türen und Fenster. Eine Heizung gab es nicht. Zusammen mit Handwerkern, Freunden und hunderten Jugendlichen aus zahlreichen europäischen Ländern hat der Verein im Laufe der Zeit ein Wohn- und Zweckgebäude hergerichtet, das für Workshops, Seminare und Übernachtungen wie geschaffen ist. 22 Leute können dort einigermaßen komfortabel übernachten – in Betten, die wie die meisten Möbel und Gerätschaften gespendet oder selber gebaut wurden. Das Haus ist von der Gemeinde Neudorf-Friedenfelde gepachtet und wird als „West-Ost-Forum zur europäischen Begegnung“ genutzt.

„Wir haben pro Jahr ungefähr 250 Leute zu Gast“, sagt Mascha Join-Lambert, die gerade ihren 60. Geburtstag gefeiert hat. Viele junge Leute aus Polen, Russland, Frankreich und anderen Ländern absolvieren ihren Europäischen Freiwilligendienst in Neudorf. So wie Gita Gereisa aus Riga, die es seit ihrem ersten Besuch immer wieder in die Uckermark zieht. Die Soziologiestudentin war mit dürftigen Sprachkenntnissen nach Deutschland gekommen. Jetzt, nach neun Monaten des von der EU geförderten Freiwilligendienstes und drei weiteren Besuchen in Neudorf, erzählt sie fast fließend von ihren Erlebnissen. „Ich konnte mir vorher gar nicht vorstellen, dass es in diesem reichen Land auch arme Menschen gibt“, sagt die 25-Jährige. Nicht nur die Sprache habe sie während ihrer Zeit in Deutschland gelernt, sagt die Lettin heute. Sie habe eine gehörige Portion an Selbstvertrauen gewonnen, meint sie. Und bettelnde Menschen auf der Straße sehe sie jetzt mit anderen Augen. Nicht zuletzt wolle sie den gemeinnützigen Gedanken weitertragen. Nach noch ein paar Jahren Auslandserfahrung will sie in Lettland versuchen, auch so etwas wie Haus Neudorf auf die Beine zu stellen.

Die Abgeschiedenheit der Uckermark sei nicht umsonst gewählt, erklärt Mascha Join-Lambert. Das Haus diene nicht nur als Begegnungsstätte für Europas Jugend, sondern quasi auch als Kurzurlaubsstätte für Menschen, die sich das ohne Unterstützung nicht leisten könnten. „Auch arme Menschen haben ein Anrecht auf Natur und Erholung“, sagt Join-Lambert. So übernachten regelmäßig Obdachlose oder von Armut betroffene Familien in dem idyllischen uckermärkischen Ort. Nicht nur aus Berlin, wo der Verein regelmäßig Gesprächskreise in Obdachlosenasylen auf die Beine stellt, kommen die Gäste. „Auch aus Weimar, Halle, Hamburg, Basel, ja sogar aus Polen haben Menschen bei uns schon einen Platz zum Auftanken gefunden“, sagt die Vereinschefin. Die Kontakte entstehen über die Jugend- und Sozialämter oder durch jugendliche Freiwillige selbst. Wichtig dabei sei, sagt Join-Lambert, dass alle miteinander ins Gespräch kommen, dass ein familiäres Gefüge entsteht. „Wir feiern Ostern zusammen oder machen Wanderungen.“ Lesungen, Gesprächsrunden oder die Arbeit an Haus und Garten – in Neudorf wird alles gemeinsam gemacht. „Es ist ein wunderschönes Gefühl mitzuerleben, wie sich französische Jugendliche mit Migrationshintergrund mit einer Obdachlosenfamilie aus Polen anfreunden“, sagt Join-Lambert. So könne man der Jugend die Augen öffnen für soziale Wirklichkeiten. Armut lasse sich nicht von heute auf morgen aus der Welt schaffen. „Eine starke Idee braucht mindestens eine Generation.“ Wenn Mascha Join-Lambert aber hört, dass durch das Haus Neudorf eine Familie weiter zusammenhält oder ein ehemaliger Teilnehmer berichtet, den Weg in den Beruf gefunden zu haben, sind das für sie schon kleine Schritte zum Ziel.

Informationen im Internet:

www.hausneudorf.de

Andreas Wilhelm

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