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1. Mai: Eintritt frei

Es ist ein Ritual mit fester Dramaturgie, ein „Theater“. Der 1. Mai in Berlin lebt vor allem von seinen Zuschauern. Die sind gekommen, auch von weit her, um zu filmen, zu fotografieren, endlich mal dabei zu sein, wenn irgendwo der erste Stein geworfen wird. Und plötzlich sind sie mittendrin

Als erstes ist immer das Publikum da. Es hat die Tribünenplätze am Spreewaldplatz eingenommen. Die Akteure selbst sind noch unentschlossen. Die Polizei mäandert in Trauben um die Bäume am Lausitzer Platz. Dann platzt ein Böller mit großer Wucht, ein Johlen setzt ein, eine Flache fliegt quer über die Sklalitzer Straße, Polizisten rennen, Demonstranten und Zuschauer stieben auseinander, weit aufgerissene Augen, hysterisches Lachen. „Geil ist das, echt geil, Alter.“

Willkommen zu den Maikrawallen, in diesem Jahr etwas früher als sonst, schon kurz nach der Tagesschau. Die Strecke der „revolutionären“ Mai-Demonstration war einfach zu kurz, das Tempo unterwegs zu hoch. Zu schnell flaniert der Zug an den Demotouristen vorbei, die auf Stromkästen geklettert waren, um erstaunt und reglos auf die skandierende Menge hinabzuschauen. Aber auch die Demonstranten schauen auf sie herab. „Das sind die Handlanger der Kapitalisten“, sagt der Sprecher auf dem Truck, der voranfährt und den Begleitsound liefert. Übersetzt heißt das: Richtig ist hier nur, wer mitmacht.

Aber was heißt Mitmachen? Und wobei? Es beginnt mit einem Kribbeln. Ganz sachte erst, dann stärker, und es überträgt sich auf jeden. Die Luft flirrt, dann klirrt irgendwo eine Flasche. Claudia weiß, wie sich der 1. Mai in Berlin anfühlt. Das Klirren sagt es ihr. Kurz bevor es losgeht. Es. Die jährliche Straßenschlacht, die Hatz zwischen Steinewerfern und Polizisten, die oft schon einen Abend vorher beginnt, bei der Walpurgisnacht im Ostteil der Stadt.

Claudia ist 27 Jahre alt. Am frühen Freitagabend sitzt sie auf einer Bordsteinkante am Boxhagener Platz in Friedrichshain und dreht verlegen eine braune Haarsträhne zwischen den Fingern. Vor sieben Jahren zur selben Zeit geriet sie in Kreuzberg zwischen Randalierer und Polizei, das hat ihr gereicht. Sie kommt aus Lichtenberg. Und sie will abhauen, wenn es anfängt zu kribbeln.

Abhauen, während andere nur deswegen kommen. Weil sie Krawall fasziniert. Als Ersatzabenteuer, weil zivilisierte Gesellschaften ihrer Jugend den Kitzel der Gefahr, der Selbstbehauptung bieten. Wie die Gruppe Niederländer, die breitschultrig und angetrunken in Richtung Boxhagener Platz zieht, als Flaschen klirren, Punks Polizisten anpöbeln. Der 20- jährige New Yorker Business-Student Pratik, der mit Freunden nur für das Wochenende nach Berlin reiste, weil es hieß: May Day is a lot of fun. Mayday, das allein klingt nach Chaos, nach Aufregung. Und der Student im fein karierten Hemd sagt, er fühle sich, als müsse er heute eine Bierflasche zerschmeißen. Warum? „Weil ich das noch nie in meinem Leben gemacht habe.“ Und weil die Stimmung gerade passt.

Pratik ist schmal und trägt Brille, in einer Woche schreibt er die letzten Prüfungen an der Universität. Was hat er hier verloren, mitten in der Walpurgisnacht, ein ganz normaler Junge aus New York?

Evolutionspsychologen meinen, dass das Betrachten einer Gewalt- oder Gefahrensituation nicht unbedingt ein Charakterdefizit sein muss. Es könnte vielmehr dazu dienen, das eigene Risiko abzuschätzen. Eine Art Vorbereitung auf Situationen, in denen plötzlich auch die eigene Existenz auf dem Spiel steht. Mitmachen ist dabei nicht zwingend. Zusehen ist oft Beteiligung genug.

Ein neues Phänomen ist er jedenfalls nicht, der Katastrophentourismus, die Schlachtenbummelei, die in Berlin nach ein paar ruhigeren Jahren ohne Mai-Randale seit 2009 wieder Konjunktur hat. In Berlin strömten Schaulustige schon vor knapp 200 Jahren nach Großbeeren, wo im Sommer 1813 Napoleon gegen die Preußen gekämpft hatte. Johann David Müller beobachtete, wie ein großer Tross neugierig vor die Stadt zog. Dort erblickten sie „ein Chaos von Menschen, Militär, Leichen, toten Pferden, Kugeln, Tornistern, Schuhen, Riemzeug“. Nachmittags, so berichtet Müller weiter, „brannten zahllose Küchenfeuer, und um fünf Uhr wurde überall umgeben von Leichnamen gespeist, und viele tausend Berliner nahmen an dem Mittagessen teil“. In den Tagen nach den blutigen Kämpfen vom 18. März 1848 entdeckte Berlin erneut den Katastrophentourismus. Berlin, Stadt der Revolution.

„Revolutionary Berlin“ heißt die neuste touristische Attraktion. Ein Stadtrundgang durch den umkämpften Kiez wird angeboten von Linken, die lieber namenlos bleiben. Das Werbevideo zeigt brennende Autos und Graffiti, dazu spielt Punkmusik. Politische Demonstrationen seien manchmal angereichert mit brennenden Autos und fliegenden Pflastersteinen, verkündet die Internetseite. Die Touren sind bei jungen Menschen aus Ländern beliebt, die so etwas wie den 1. Mai und dessen revolutionäre Stimmung nicht kennen.

Auf der abgesperrten Grünberger Straße sitzt am Freitagabend auch Anja. Sie kommt jedes Jahr. „Ein schönes Fest“ sei die Antikapitalistische Walpurgisnacht am Boxhagener Platz. „Und spannend zum Schluss“, sagt sie mit wissendem Grinsen. Ihr Begleiter ist eigens aus Hamburg angereist. Henry. Auch er kennt die Choreographie des Abends: Irgendwann wird die Polizei alle bitten, den Platz zu verlassen. Nicht viele werden gehen – dann beginnt das Kribbeln.

In einer Studie, die von der Freien Universität nach dem 1. Mai 2009 durchgeführt wurde, sagt eine der befragten Zuschauerinnen über die Randale, sie sei „wie so ein Theaterstück, live. Also Generalprobe ist gleich Premiere.“ Das sieht Innensenator Erhart Körting genau so. Vor ein paar Tagen sagte er über das „Theater“: Wenn es am 1. Mai keine Zuschauer gäbe, würde die Vorstellung ausfallen.

Doch der Vorhang hebt sich auch diesmal wieder, es treten auf: Polizisten mit Helm, schwarz gekleidete Randalierer und jede Menge Publikum. Und wie im Theater reagiert es nicht nur amüsiert oder gelangweilt. Es streut auch Konfetti vom obersten Balkon, wo eine Totenkopfflagge weht. Das Ensemble jubelt ob dieser unerwarteten Sympathie. Später regnet dann ein Kübel Wasser auf die Marschierer. Wieder weht oben auf dem Balkon eine Flagge, diesmal ist sie schwarzrotgold.

Zwei Jungen aus Tempelhof, 17 Jahre, tasten sich unsicher an der Peripherie des Spektakels entlang. Sie haben Kapuzenpullis übergestreift, sind zum ersten Mal dabei, einer kringelt das Kapuzenband um seinen Zeigefinger, lächelt geniert. Ihre Namen möchten sie nicht sagen. Sie haben ein wenig Angst, wollten aber unbedingt „mal mitmachen“. Sowas, sagt der eine, habe er noch nicht gesehen.

Die Künstlergruppe „Public Movement“ betrachtet den 1. Mai in Kreuzberg als großes Gesamtkunstwerk. „Eine öffentliche Bewegung, ein Massenspektakel, das Tausende Bürger involviert“, schreiben sie auf ihrer Webseite. Alle Beteiligten interagierten in einer „Szene voll Feuer, zerbrochenem Glas, Blitzlichtern, Steinen und Sirenen“. In einer Bar, nahe dem Kottbusser Tor, wollen die Künstler am Abend Kopfhörer verteilen. Auf fünf Kanälen werden eigens für die „Riots“ kreierte Programme ausgestrahlt. Ein Soziologe kommentiert auf dem einen, „Live Music for Riots“ werden auf dem anderen gespielt.

Auf einer Parkbank in Friedrichshain jedenfalls wird bei Einbruch der Dunkelheit die Taktik für den Abend besprochen. „Nicht alle einzeln wegrennen“, mahnt einer. Irgendwie zusammenbleiben. „Mehr so wie die in Athen“, sagt er in Anspielung auf die griechischen Autonomen-Krawalle des vergangenen Jahres. Die Umsitzenden nicken, ziehen an ihren Zigaretten.

„Wegrennen?“, fragt ein anderer, ganz in Schwarz und ganz betrunken, am anderen Ende des Platzes. Früher, als er noch Autonomer war – er ist 29 Jahre alt –, da sei „stehen bleiben“ die beste Taktik gewesen. Denn wer nicht rennt, ist unschuldig. „Aber das funktioniert heute nicht mehr, heute nehmen sie alle mit“, sagt er und meint mit „sie“ die Polizei. Ohnehin: Früher! Da flogen auch Steine – aber geworfen aus politischer Überzeugung, als Beitrag zur Debatte gewissermaßen. „Heute kommen doch viele nur zum Spaß.“

Es kribbelt, es klirrt, der letzte Akt. Am Spreewaldplatz entwickeln sich kleine Scharmützel. Aber es ist die Zeit für Solisten, mit schwarzen T-Shirts und Punkerfrisur. Sie treten aus der Menge ins Freie, schwenken ihr Revoluzzerfähnchen, werfen eine leere Flasche. Sie skandieren „Haut ab, haut ab“. Dann treten sie selbst ab, nach hinten. Die Umstehenden nippen amüsiert an ihren Plastikbechern und genießen den seltsam-schaurigen Abend. Zum Gehen ist es noch viel zu früh. Und auf den Balkonen rundherum werden die Kameras gezückt, vor hell beleuchteten Wohnzimmerfenstern beugen sich dunkle Silhouetten über die Brüstungen. Ein Schattenpublikum.

„Gaffer-Syndrom“ heißt im Fachjargon, was auf den Balkonen und Straßen geschieht. Wie bei Unfällen, wo alle glotzen und niemand eingreift. Weil fasziniert, was dunkel, unheimlich und tödlich ist. So auch am Mittag des 1. Mai in Prenzlauer Berg. Im Rest des Jahres ist nicht viel los hier oben an der Grenze zu Pankow. Dieter Schwarz, arbeitsloser Tonmeister, ist vom Fernseher ans offene Erdgeschossfenster gewechselt. Gerade ist ein Trupp vermummter Polizisten vorbeigetrabt. Das war gutes Kino, hautnah und echt, auch wenn Schwarz sagt, er könne kein Blut sehen. Demonstrieren war er selbst noch nie. Auch nicht, als es noch die DDR gab. „Da waren wir schon vorher so betrunken, dass wir es nicht mehr bis zur 1.-Mai-Demo geschafft haben.“ Seine Frau steht neben ihm, die Arme auf den Sims gestützt, und fragt: „Waren die nun für die Rechten oder für die Linken?“

Klaus, Vetriebsmitarbeiter einer Internetplattform, ist spontan auf die Straße gegangen. „Ich bin Schaulustiger“, bekennt er und lacht hämisch. Das Lachen soll deutlich machen, dass er weiß, wie verwerflich das sein kann. Zur moralischen Gegenwehr hat er sich noch einen klugen Nebenzweck ausgedacht. Den Film, sagt er, werde er bei Youtube einstellen, um der Welt zu zeigen, was sich hier in Berlin für absurde Jagdszenen abspielen. „Das gibt mindestens zehn Minuten Material, da leg’ ich noch einen passenden Sound drüber.“ Dann wird Klaus plötzlich von einer Polizeikette ostwärts geschoben. „Ich bin Anwohner!“ Der schwach vorgetragene Protest dringt nicht durch. „Hätten ja nicht runtergehen müssen“, sagt ein Polizist. Noch ein letzter Blick zu seiner Frau, die vor dem Haus steht und ihn noch gewarnt hatte, dann ist Klaus, der Voyeur, zum Akteur geworden.

In Kreuzberg ächzt das Myfest am frühen Nachmittag unter Besuchermassen. Grillschwaden ziehen durch die Häuserschlucht der Oranienstraße. Im Gewoge der driftenden Menschenströme steht etwas verloren ein Gymnasiasten-Sextett aus Köln, 12. Klasse. Sie wissen noch nicht, ob sie auch demonstrieren wollen, „gegen Neoliberalismus“, oder doch nur „chillen und feiern“, erst draußen und später im Club Maria am Ostbahnhof. Ihr Sprecher, kurze dunkle Haare, stellt unvermittelt klar, sie seien „keine Krawalltouristen“. Sondern Partypeople.

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