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Berlin: 10 Jahre Währungsunion: Die Nacht der blauen Wunder

Ganz Verrückte drehten den blauen Hunderter zu einem Fidibus und zündeten ihn an - Karl Marx, Feuer und Flamme, ging in Rauch auf. Andere kauften in der Nacht zum 1.

Ganz Verrückte drehten den blauen Hunderter zu einem Fidibus und zündeten ihn an - Karl Marx, Feuer und Flamme, ging in Rauch auf. Andere kauften in der Nacht zum 1. Juli 1990 mit den letzten DDR-Mark in der Friedrichstraße einen Arm voller Rosen oder begrüßten schon mal, hoch die Tassen, in der Eckkneipe die neue harte Mark, wie sie ab null Uhr dem DDR-Menschen das bringen sollte, was ihm seine Regierung Jahre lang versprochen hatte: Brot, Wohlstand und Schönheit.

Über Nacht war ein ganzes Volk in die pekuniäre Champions-League aufgerückt. Die windelweiche Mark der DDR, mit der ihr Besitzer nicht einmal bei den sozialistischen Brüdern Staat machen konnte, war Geschichte; an den Schaltern wurde ein neues Selbstbewusstsein ausbezahlt.

Wie mußte er sich all die Jahre in Budapester Hotels oder an Bulgariens Goldstrand als Mensch zweiter Klasse fühlen, weil man sein sauer verdientes Geld gar nicht haben wollte, aber ständig bereit war, Forint oder Lewa in die andere "Deutschmark" zu tauschen. Das Geld der Schwestern und Brüder hatte längst auch im eigenen Land einen besonderen Markt geschaffen; beim Handwerker wirkten die "blauen Fliesen", wie das Westgeld umschrieben wurde, Wunder. Und in den Intershops am Bahnhof Friedrichstraße oder in den Interhotels konnte man sich für das Geldgeschenk lieber Freunde einen bescheidenen Wunsch erfüllen - oder auch schon mal ein Auto kaufen.

Über Nacht waren die Privilegien solcher Erwerbungen wie weggeblasen. Jeder hatte nun die frei konvertierbare Währung in der Tasche und (in oft nicht unerheblichem Wert) auf seinem Bankkonto. In der Nacht, als die D-Mark kam und Millionen Scheine gut bewacht die Tresore des ZK-Gebäudes am Werderschen Markt verließen, konnten es manche nicht erwarten, an die "Westknete" heranzukommen. Die Fenster der Filiale der Deutschen Bank am Alexanderplatz splitterten, die Polizei musste eingreifen und die Fotos geldgeiler DDR-Bürger gingen um die Welt. Deutschland, einig D-Mark-Land.

Die Folgen dieser Währungsreform wurden rasch für jeden spürbar, jeder kann sein eigenes Liedlein singen. Wir fuhren nach Lanzarote, und die Hamburger Freunde klatschten nicht in die Hände, sondern sagten "Was? Da sind ja wir noch nicht einmal gewesen". "Westautos" ersetzten im Handumdrehen die altgedienten Wartburgs, Trabbis, für die Wochen zuvor noch Fantasiepreise gezahlt worden waren, wurden für 200 Mark verschleudert. In der Hauptstraße von Buchholz boten mehr als ein Dutzend Gebrauchtwagenhändler ihre Kisten in den Vorgärten feil, plötzlich bogen sich die Regale der Kaufhallen unter Waren, die wir nur aus der Fernsehwerbung kannten; bundesdeutsche Produkte boomten in dem neuen Absatzgebiet mit 16 Millionen Menschen, der weiße Riese überrollte das Land. Betriebe stürzten zusammen, Gerichtsvollzieher hatten Hochkonjunktur. Über Nacht war dem Geld eine große ungewohnte Macht zugefallen. Die alten "Aluchips" waren zwar billig, aber dennoch: Man konnte für wenig davon einiges haben. Gute Literatur, Musik, Theater zum Beispiel.

Bald bestimmte Haben und Nichthaben das Bewusstsein. Wir lernten Inhalte neuer Begriffe - Dax, Börse, Kredit, Aktie, Immobilie, Anlage, Anleihe, Zinsen, Eigentum. Unerkäuflich dagegen blieben Werte wie Freundschaft, Hilfsbereitschaft, Redlichkeit, Güte - Herzensbildung hat wenig mit Geld zu tun, ob hart oder weich.

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