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Historische Hebebühne. Das Jahr 1989 in einem Bild: David Hasselhoff singt. Und die Mauer verschwindet. Unter Menschen.

© picture-alliance / dpa

1989 im Liveticker: Looking for Frieden

Wo waren Sie, als David Hasselhoff die Berliner Mauer stürzte? Als Klaus Wowereit Ulli Zelle sein erstes Interview gab? Die Autoren von „Und nun zum Wetter. 100 Jahre Weltgeschichte im Liveticker“ waren dabei – oder tun zumindest so. Im exklusiven, erweiterten Vorabdruck tickern sie hier das Jahr 1989.

1. Januar 1989 – Egal ist 88. 2. Januar 1989 – Der Teichrohrsänger ist Vogel des Jahres, die Stieleiche Baum des Jahres, das Breitblättrige Knabenkraut Orchidee des Jahres. Meist wird eine solche Auszeichnung ja bedrohten Arten zuteil. Wählen wir also noch schnell die DDR zum Staat des Jahres. 3. Januar 1989 – Spiel mir das Lied vom Tod. Zur weltberühmten Titelmelodie des Sergio-Leone-Westerns zeigen die Berliner Republikaner in ihrem Werbespot zur Abgeordnetenhauswahl all das, wogegen sie antreten: Drogentote, Punker, Mauertote, Dönerbuden, türkische Mütter, türkische Hochzeitspaare und, besonders tödlich, türkische Kinder. Wofür sie einstehen, davon kein Wort. 6. Januar 1989 – Zuversicht gibt es in diesen Tagen von Helmut Kohl. Der Bundeskanzler lässt sein Volk wissen: „Pessimismus trübt den Blick, lähmt Kräfte und raubt Lebensfreude.“ Er ist sich sicher: Das wird ein gutes Jahr. Bleibt nur zu hoffen, dass das nicht wieder die Neujahrsansprache von 1985 ist.

„Durch ein Versehen ist die Neujahrsansprache des Bundeskanzlers heute Abend verwechselt worden. Die ARD entschuldigt sich dafür! Die korrekte Fassung wird morgen, am Neujahrstag, um 20.05 Uhr,
nach der Tagesschau ausgestrahlt.“
Einblendung nach Kohls Ansprache am 31. Dezember 1986

8. Januar 1989 – Ost-Berlin. In einer Kneipe fragt ein Betrunkener einen Unbekannten: „Kennst du den Unterschied zwischen meinem Bier und Honecker?“ – „Nein“, antwortet der Fremde finster. „Mein Bier ist flüssig und Honecker ist überflüssig.“ Fragt der andere bissig zurück: „Kennen Sie den Unterschied zwischen Ihrem Bier und sich?“ – „Nein.“ – „Ganz einfach: Ihr Bier bleibt hier, und Sie kommen mit.“ 11. Januar 1989 – In Ost-Berlin wird eine streunende Hündin entdeckt und von scharfsinnigen Mitarbeitern des DDR-Außenministeriums als Westagentin identifiziert. Grund: Der Schnauzermischling trägt ein Stachelhalsband, wie Punker es ihren Tieren umbinden, und eines gegen Flöhe. Ungeziefer beider Arten kommen in der DDR jedoch offiziell nicht vor. Die Spionin wird an der Glienicker Brücke gegen zwei Pekinesen ausgetauscht. 13. Januar 1989 – 300 Tage vor ihrem Fall bezahlt Ingolf Diederichs den Versuch, die Mauer mithilfe einer Klappleiter zu überwinden, mit seinem Leben. Als er zwischen den S-Bahnstationen Pankow und Schönhauser Allee, wo die innerdeutsche Grenze nur wenige Meter neben den Gleisen verläuft, die Türen aufstemmt und aus dem fahrenden Waggon springt, bleibt er hängen und wird mitgeschleift. Entschuldigen Sie, war das der Todeszug aus Pankow?

„Die Mauer wird so lange bleiben, wie die Bedingungen nicht geändert werden, die zu ihrer Errichtung geführt haben. Sie wird auch noch in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe nicht beseitigt sind.“
Erich Honecker auf einer Tagung aus Anlass des 500. Geburtstages von Thomas Müntzer am 19. Januar 1989

20. Januar 1989 – George Bush wird im Weißen Haus als 41. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. Sein Sohn George W. (42) sitzt derweil im Oval Office auf dem Teppich und baut aus Holzklötzen zwei Türme, die jedoch alsbald einstürzen. 27. Januar 1989 – Dahlem. An diesem Sonntagvormittag spricht Eberhard Diepgen (CDU) im Jazzclub „Eierschale“ vor Jungwählern. Darunter auch einige, die gerade erst aus der DDR gekommen sind. Einer der Aussiedler erkundigt sich nach der Ausländer- und Asylpolitik der CDU. Er fürchte sich, sagt er, Neu-Kreuzberger, vor Überfremdung. Man könne, antwortet Diepgen, doch Menschen nicht einfach in Krisengebiete zurückschicken. Der junge Mann, er darf also bleiben. 29. Januar 1989 – Diepgen selbst aber muss gehen: Er wird als Regierender Bürgermeister von Berlin abgewählt. „Und das ist auch gut so“, befindet Klaus Wowereit (SPD), einigermaßen unbekannter Stadtrat für Volksbildung und Kultur in Tempelhof, in einem Interview, das er sich selbst vor dem Badezimmerspiegel gibt. 30. Januar 1989 – Der Tag nach der Wahl. Sind die Republikaner nun massenkompatibel geworden, mit ihren 7,5 Prozent? Der Berliner Vorsitzende Bernhard Andres jedenfalls hat Kreide gefressen, er genießt den Moment, den Andrang der Presse, die Kameras, die Aufmerksamkeit des großen Führers Schönhuber neben ihm, wie Gift schleichen seine Sätze in die Mikrofone: „Wir haben nie gesagt ,Ausländer raus‘“, säuselt er, und manch einer seiner Wähler, der mit der Sprengung Kreuzbergs noch für diesen Vormittag gerechnet hatte, würde seinen Stimmzettel am liebsten wieder aus der Urne fischen. „Wir haben immer gesagt ,Humane Rückführung in die Heimatländer im Rahmen der Familienzusammenführung‘.“ Spiel mir das Lied vom Tod. 4. Februar 1989 – In der DDR wird die „Grüne Liga“ gegründet. Da dies jedoch illegal geschieht, stricken die Gründungsmitglieder zunächst nur unsichtbare Pullover. 5. Februar 1989 – 277 Tage vor dem Fall der Berliner Mauer. Chris Gueffroy ist je nach Zählung ihr 137. oder 244., sicher jedoch ihr vorletztes Opfer, als er beim Versuch, den letzten Grenzzaun am Britzer Verbindungskanal in Treptow zu überwinden, von einer Kugel ins Herz getroffen wird. Ein befreundeter Grenzsoldat hatte ihm erzählt, der Schießbefehl sei aufgehoben worden. Ein tödlicher Irrtum – der Befehl wird erst wegen ihm außer Kraft gesetzt. 6. Februar 1989 – Erstes Treffen am Runden Tisch in Warschau. Die Kommunisten geben resigniert Teile ihrer Macht ab, nachdem sie eine Stunde lang vergeblich versucht haben, ihre Akten parallel zur Tischkante auszurichten. 12. Februar 1989 – Joachim Kardinal Meisner, seit 1980 Bischof von Berlin, tritt sein neues Amt als Erzbischof von Köln an. 30 000 muslimische Familien können ihn nicht ersetzen. 15. Februar 1989 – Der Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, der bereits im Mai des Vorjahres begonnen hat, ist abgeschlossen. Die Mudschahidin ernennen John Rambo noch am selben Tag zum Ehrenmitglied.

Russischer Offizier: „Wer sind Sie?“ Rambo: „Ihr schlimmster Albtraum.“
aus „Rambo III“

3. März 1989 – Erich Honecker macht es sich in seinem Wohnzimmer in der Waldsiedlung Wandlitz ein letztes Mal so richtig gemütlich und schaut einen Todesstreifen. 8. März 1989 – 246 Tage vor ihrem Fall fordert die Berliner Mauer nun ein letztes Leben. Weil ein zufällig vorbeilaufender Hilfskellner in der Nähe des S-Bahnhofs Blankenburg Zeuge der Startvorbereitungen wird und die Volkspolizei alarmiert, bricht Winfried Freudenberg überstürzt alleine mit dem selbst gebastelten Heißluftballon in Richtung West-Berlin auf und wird in dem manövrierunfähigen Gefährt zum Spielball der eiskalten Lüfte. Als seine Frau, die eigentlich hatte mitkommen sollen, in die ehemals gemeinsame Wohnung im Prenzlauer Berg zurückkehrt, wird sie bereits von der Staatssicherheit erwartet. Ihr Mann stürzt nach stundenlanger Irrfahrt am frühen Morgen aus großer Höhe in den Garten einer Zehlendorfer Villa. Er ist sofort tot.

„Über den Wolken
muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.
Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man,
blieben darunter verborgen und dann
würde was uns groß und wichtig erscheint
plötzlich nichtig und klein.“
Reinhard Mey, „Über den Wolken“

9. März 1989 – In Wien beginnen Abrüstungsverhandlungen, an deren Ende zwar der „Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa“ stehen wird – der Ruf eines Teilnehmers „Jungs, ab jetzt nur noch Steinschleudern! Wie früher!“ verhallt aber ungehört. 10. März 1989 – Der Präsident des Amtsgerichtes Moabit teilt in einem offenem Brief sein Bedauern über die Äußerung eines seiner Richter mit. Die Aussage „Wir leben leider in einem Rechtsstaat“ stelle in seiner Behörde keine Mehrheitsmeinung dar. 13. März 1989 – Nachdem bei Sprengungen im DDR-Kaliwerk Merkers ein Gebirgsschlag ausgelöst worden und es dadurch zu schweren Bauschäden in der Gemeinde Völkershausen gekommen ist, sagt ein Statiker bei der Prüfung eines Hauses erstmals den Satz: „Die Mauer muss weg!“ 16. März 1989 – Walter Momper (SPD) wird vom Berliner Abgeordnetenhaus zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Der noch immer einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit (SPD) spricht auf den Anrufbeantworter von Ulli Zelle (SFB): „Und das ist auch gut so.“ 18. März 1989 – An diesem Samstag, 15.25 Uhr, sitzt Stasichef Erich Mielke im Stadion der Weltjugend und ist außer sich. Als seinem Verein, dem Berliner FC Dynamo, im Hassduell gegen den 1. FC Union ein Freistoß auf Höhe der 16-Meter-Linie zugesprochen wird und sich die eiserne Verteidigung viel zu nah vor dem ruhenden Ball sortiert, springt er auf, dem Wahnsinn nahe, und brüllt nun auch minutenlang: „Die Mauer muss weg! Die Mauer muss weg!“ Anwesende Parteifreunde heben fragend die Augenbrauen. 26. März 1989 – Auf Bestreben des ZK-Generalsekretärs Michail Gorbatschow dürfen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion ihre Vertreter im Volksdeputiertenkongress frei wählen. Dazu der einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit (SPD) … Ach, lassen wir das. 3. April 1989 – „Looking for Freedom“ von David Hasselhoff erklimmt die Spitze der westdeutschen Charts und bleibt dort für acht Wochen.

„I’ve been looking for freedom.
I’ve been looking so long.
I’ve been looking for freedom.
Still the search goes on.“
David Hasselhoff, „Looking for Freedom“

Glasnost in Bodennähe

Singen, Wetten, westdeutsch sein. Im Jahr 13 nach dieser Aufnahme (Kölner Konzert, 1976) sitzt Wolf Biermann bei "Wetten, dass ...?".
Singen, Wetten, westdeutsch sein. Im Jahr 13 nach dieser Aufnahme (Kölner Konzert, 1976) sitzt Wolf Biermann bei "Wetten, dass ...?".

© dpa

4. April 1989 – Laut einer vom Tagesspiegel in Auftrag gegebenen Umfrage verstehen zwei von drei Bundesbürgern übrigens „I’ve been looking for Frieden“. 5. April 1989 – Deutsche Nachrichtensprecher verfallen nach der Wiederzulassung der „Solidarność“ in Polen in blanke Panik: Wie spricht man noch mal diesen verdammten Wałęsa aus? 6. April 1989 – Ah, so:  [lɛx va wɛ̃sa]  Puh! 8. April 1989 – Saarbrücken. Der Liedermacher Wolf Biermann tritt bei „Wetten, dass ..?“ auf. Er singt ein Lied für Michail Gorbatschow. Anschließend wettet er, dass er noch immer zehn der 20 Punkte aus dem MfS-Plan zur Zersetzung seiner Person allein an ihrer Hirnrissigkeit erkennen kann. 23. April 1989 – Und nun zum Wetter. Hoch Michail sorgt in weiten Teilen der DDR für Auflockerung. Von Osten her weht ein starker Wind, der über Nacht Veränderungen bringen wird. In Bodennähe bildet sich Glasnost. 30. April 1989 – Im Deidesheimer Hof, Helmut Kohls rustikalem Stammlokal in der Pfalz, empfängt der Bundeskanzler die britische Premierministerin Margaret Thatcher zu Abrüstungsgesprächen. Kohls Strategie fußt dabei auf drei wesentlichen Dingen: Saumagen, Leberknödel und Bratwurst. Die sogenannte Pfälzer Dreifaltigkeit soll die wenig kompromissbereite Thatcher bekehren. Doch es reicht ein Blick der Eisernen Lady, um Fleisch und Stimmung gleichermaßen abkühlen zu lassen. „Eiskalt“, sagt Kohl hinterher über Thatcher. Lässt sich aber trotzdem noch was einpacken. Für den Weg. Nach Europa. 1. Mai 1989 – Und noch mehr Wetter: Strahlend blauer Himmel bei der letzten Maikundgebung in der Geschichte der DDR auf der Karl-Marx-Allee, bei der das sich später selbst so nennende „Volk“ allerdings vorsorglich ausgesperrt werden muss. In Kreuzberg hingegen hagelt es auch unter dem rot-grünen Senat wieder Steine. 2. Mai 1989 – Ungarn öffnet seine Grenze nach Österreich. Kein feuchter Traum kaiserlich-königlicher Nostalgiker, sondern der Anfang vom Ende des Ostblocks. Das ORF zeigt vorsichtshalber trotzdem „Sissi“, alle drei Teile. 5. Mai 1989 – Heute machen wir uns kein Abendbrot, heute machen wir uns Gedanken – über Wolfgang Neuss: Der Kabarettist stirbt 66-jährig in Berlin.

„Auf deutschem Boden darf nie wieder ein Joint ausgehen.“
Wolfgang Neuss

6. Mai 1989 – Im Westen nichts Neuss. 8. Mai 1989 – Looking for Frieden, auch in der DDR. Doch zunächst vergeblich: Erstmals wird zu einem Friedensgebet in der Leipziger Nikolaikirche ein Polizeikessel gebildet. Es kommt zu Übergriffen und Verhaftungen. 10. Mai 1989 – Der BFC Dynamo verliert 2:4 gegen Lok Leipzig und damit zum ersten Mal seit zehn Jahren die Meisterschaft in der DDR-Oberliga. Ein Husarenstück von Erich Mielke. Denn damit ist klar: Zumindest sein Verein wird es nicht in den Westen schaffen. 12. Mai 1989 – Auf dem Zenit seines Erfolgs beschließt David Hasselhoff, die Berliner Mauer zum Einsturz zu bringen. 18. Mai 1989 – Der rot-grüne Senat beschließt angesichts hoher Unfallzahlen und immenser Lärmbelästigung ein Tempolimit von 100 km/h auf der Avus. Noch am Abend kommt es deshalb zu Demonstrationen auf dem Autobahnteilstück. Die Teilnehmerzahlen schwanken zwischen einigen hundert (Polizei) und etwa 350 000 (ADAC). 21. Mai 1989 – Auch nach sieben Wochen die Nummer eins in den BRD-Charts: David Hasselhoff mit „Looking for Freedom“. 22. Mai 1989 – Auch nach 14 Jahren die Nummer eins in den DDR-Charts: Erich Honecker mit „Locking your Freedom“. 1. Juni 1989 – Bis Juli lässt die DDR alle Hauskaninchen gegen Myxomatose impfen. Der Versuch, zeitgleich alle Mauerhasen gegen Republikflucht zu impfen, scheitert allerdings kläglich. 3. Juni 1989 – Ajatollah Chomeini stirbt 87-jährig in Teheran. Salman Rushdie („Die Satanischen Verse“) gegenüber Ulli Zelle (SFB): „Und das ist auch gut so.“ 4. Juni 1989 – Tausende (Polizei) beziehungsweise Millionen (ADAC) Autofahrer protestieren mit einem Korso erneut gegen das Tempolimit von 100 km/h auf der Avus. Da dort auch freie Bürger nun also nur noch so schnell fahren dürfen wie auf den Transitautobahnen der DDR, ist von „sozialistischer Gleichmacherei“ und „Folterwerkzeugen aus der Horrorkiste“ die Rede, die den Berlinern, den West-Berlinern wohlgemerkt, „auch die letzten Bereiche selbstbestimmter Lebensfreude“ genommen hätten. 10. Juni 1989 – Harald Juhnke wird 60. Und nimmt sich selbst aufs Korn.

„Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Und ganz besonders freue ich mich, dass Sie fest damit gerechnet haben, dass auch ich komme.“
Harald Juhnke

12. Juni 1989 – Gorbi! Gorbi! Bei seinem Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland legt Michail Gorbatschow den Grundstein für eine spätere Einladung zu „Wetten, dass ..?“. Sieben Jahre später, in Hannover, wird er Zeuge sein, wie Moderator Thomas Gottschalk, der ein goldenes Jackett trägt, seine Sendung um 73 Minuten überzieht und am Ende ein Chor aus Vertretern aller 93 Expo-Teilnehmer „We Are the World“ von Michael Jackson singt. „Wer ins ZDF geht“, wird Gorbatschow, zu den Gummibärchen greifend, denken, „den bestraft das Leben.“ 14. Juni 1989 – West-Berlin warnt seine Bürger: „In den nächsten Tagen kann es in der Stadt wiederholt zu Geruchsbelästigungen kommen. Wie die Umweltverwaltung unter Verweis auf Beschwerden von gestern früh erläuterte, handelt es sich vermutlich um Emissionen, die mit dem Nordostwind aus der DDR in die Stadt gelangt sind.“ Der real existierende Sozialismus, er beginnt zu stinken. 1. Juli 1989 – In Berlin findet die erste Loveparade statt. Das Motto lautet „Friede, Freude, Eierkuchen“. Der einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit (SPD) ist einer der 150 Teilnehmer. Im Interview mit dem SFB sagt er: „Und das ist auch gut so.“ Ulli Zelle, in eine orangefarbene Müllwerkerlatzhose gekleidet: „Lassen Sie mich in Ruhe, Mensch. Ich bin privat hier.“

„Es ist gelogen, dass Videogames Kids beeinflussen. Hätte Pac Man das getan, würden wir heute durch dunkle Räume irren, Pillen fressen und elektronische Musik hören.“
Christian Wilson, Mitarbeiter des Spieleherstellers Nintendo

16. Juli 1989 – Der Dirigent Herbert von Karajan, langjähriger Chef der Berliner Philharmoniker, stirbt 81-jährig in Salzburg. Sein Herz hatte, zum großen Ärger des Maestros, den Einsatz verpasst. 9. August 1989 – Unweit der Mauer trifft der Schriftsteller Martin Ahrends zufällig mit französischen Studenten zusammen. Berlinbesuch, Sightseeing am sozialistischen Schutzwall. Ihnen ist die Verstörung anzumerken. Ein geteiltes Land, da sind sie sich einig, so etwas würde es in Frankreich nicht geben können. Ahrends will wissen, wie sie reagierten, zöge jemand eine solche Grenze durch Paris. Empörung. Natürlich würden sie, sagen die Franzosen, auf die Straße gehen und dieses ganze Ding dann, die Marseillaise singend, niederreißen. Viva la Wiedervereinigung. Dann verabschieden sie sich. Zurück bleibt Ahrends und denkt darüber nach, was die Deutschen singen könnten. Deutschland, Deutschland? Ganz sicher nicht. Die Internationale? Alles Quatsch. Sein Fazit, das ein paar Tage später in der „Zeit“ erscheint: „Die Mauer wird so schön nicht fallen. Sie wird klammheimlich verschwinden, wenn es soweit ist, und es wird wieder nichts zu singen geben.“ David Hasselhoff ist nun umso entschlossener. 11. August 1989 – Ost-Berlin. Dort hängt ein Schild: „Die Ständige Vertretung kann vorübergehend leider keine Besucher empfangen. Sie können sich schriftlich oder telephonisch – Ruf Nr. 280 51 01 – an uns wenden.“ Besetzt. 12. August 1989 – Ferngespräche nach Bonn. Die Einheit kostet. 13. August 1989 – Am Jahrestag des Mauerbaus demonstrieren Ausreisewillige am Brandenburger Tor in Berlin. Xavier Naidoo (16), der sich mit seiner Mannheimer Schulklasse zufällig in der Stadt befindet, singt spontan für sie „Dieser Weg wird kein leichter sein“. 14. August 1989 – Erich Honecker verkündet: „Den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.“ David Hasselhoff gegenüber Ulli Zelle (SFB): „Den Esel nimmt er zurück!“ 19. August 1989 – Paneuropäisches Picknick an der österreichisch-ungarischen Grenze. Die Honeckers sind nicht eingeladen. Die Menschen können Margots Eierschecken einfach nicht mehr sehen. 21. August 1989 – Kennen Sie den? Erich Honecker verspricht der bekannten DDR-Eiskunstläuferin Gabriele Seyfert-Messerschmidt, einen Wunsch zu erfüllen. „Öffnen Sie für einen Tag die Mauer!“ – „Du, du, du!“, meint Honecker, „willst wohl mit mir ganz allein sein?“ 25. August 1989 – Die amerikanische Raumsonde Voyager 2 fliegt am Neptun vorbei und liefert viele Fotos vom Planeten und seinen Monden. Auf vielen davon ist Rolf Eden mit wechselnden Bekanntschaften zu sehen.

„Ich liebte ein Mädchen im Grunewald,
bei der war immer die Bude kalt.“
Ingo Insterburg

Und das ist auch Ouzo!

Schlag. Ohne Sahne. Die Party anlässlich des 40. Geburtstags der DDR ist - was dieses Bild kaum ahnen lässt - nicht so gut.
Schlag. Ohne Sahne. Die Party anlässlich des 40. Geburtstags der DDR ist - was dieses Bild kaum ahnen lässt - nicht so gut.

© dpa

Zwischen den Bahnhöfen Gleisdreieck, Bernburger Straße und Kemperplatz wird die hochmoderne Magnetschwebebahn „M-Bahn“ für den Passagierverkehr in Betrieb genommen. Der bayrische Innenminister Edmund Stoiber liest die Meldung auf dem Weg vom Münchner Hauptbahnhof zum Flughafen und beginnt augenblicklich, sich Notizen für eine im Wortsinn bahnbrechende Rede zu machen. 29. August 1989 – Gespenstisch: Der einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit will „Und das ist auch gut so“ sagen, bringt aber nur ein „Weil das ja klar ist“ hervor. 4. September 1989 – Erste Montagsdemo in Leipzig. Teilnehmer: 1200. 12. September 1989 – Lange Gesichter im Zebragehege. Um die Wildbestände zu schützen und die Waldverjüngung zu unterstützen, fordert das Berliner Forstamt die Bürger auf, in diesem Jahr auf das Sammeln von Eicheln zur Fütterung der Zootiere zu verzichten. Genialer Kommentar von Zoosprecher Dr. Rudolf Reinhard: „Irgendwie affig.“ 21. September 1989 – Der Zulassungsantrag einer DDR-weiten Oppositionsbewegung, gestellt vom Neuen Forum, wird von den Behörden abgelehnt – mit der dann doch sehr einleuchtenden Begründung, die Bewegung sei „staatsfeindlich“. 22. September 1989 – Berlin stirbt. Doch nicht die Stadt, auch wenn es an manch schlechtem Tag natürlich so aussieht, sondern der Komponist, Vorname Irving, Schöpfer von „White Christmas“. 23. September 1989 – Der einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit (SPD) träumt von weißen Weihnachten und kauft sich den Revell-Modellbausatz „Flughafen“. Erst zu Hause merkt er, dass einige wichtige Teile fehlen. 25. September 1989 – Vierte Montagsdemo in Leipzig. Teilnehmer: 8000. 30. September 1989 – „Liebe Landsleute! Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …“, sagt Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, dann wird er von Jubelschreien unterbrochen. Und sein gelber Pullunder wünscht sich nichts sehnlicher, als dass er Ärmel hätte, die er jetzt um Genscher legen könnte. 5. Oktober 1989 – Erster Langer Donnerstag in Berlin. 6. Oktober 1989 – Immer noch langer Donnerstag. 7. Oktober 1989 – Unhappy Birthday. Die DDR feiert ihren Vierzigsten und lädt zur beschissensten Party aller Zeiten. Die Gäste singen nicht „Viel Glück und viel Segen“, sie schreien „Keine Gewalt“. Es gibt Knüppel statt Kuchen. Schlag. Ohne Sahne. Allein vor der Gethsemanekirche in der Stargarder Straße werden 1047 feierunwillige Bürger festgenommen.

„So, drink, drink, drink
and be ill tonight.“
The Smiths, „Unhappy Birthday“

12. Oktober 1989 – Der einigermaßen unbekannte Klaus Wowereit geht mit Ulli Zelle (SFB) griechisch essen. Während der Bestellung – er zeigt auf eine der Flaschen hinter der Theke – sagt er: „Und das ist auch Ouzo.“ 16. Oktober 1989 – Siebte Montagsdemo in Leipzig. Teilnehmer: 120 000. 17. Oktober 1989 – Erich Honecker fühlt sich vervolkt. 18. Oktober 1989 – Erich Honecker, 77 Jahre alt, lässt sich aus gesundheitlichen Gründen von allen Ämtern entbinden. Die SED wählt daraufhin Egon Krenz zum neuen Generalsekretär. In seiner Antrittsrede sagt Krenz: „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten.“ Der Anfang vom Ende. Das weiß auch Honecker. In seinem Haus in der Waldsiedlung Wandlitz spuckt der von Koliken Geplagte noch am nächsten Morgen Gift und Galle. 20. Oktober 1989 – Die Affen sitzen auf Halbast: Katharina Heinroth, von 1945 bis 1956 Direktorin des Berliner Zoos, stirbt 92-jährig in Berlin. 24. Oktober 1989 – Stasi-Chef Erich Mielke weist erhöhte Kampfbereitschaft und das Tragen der Schusswaffe an. Und plötzlich fällt auf: In dem Wort Morddrohungen steckt auch das Wort DDR. 25. Oktober 1989 – Die kommunistischen Bruderstaaten dürfen ab jetzt über ihren politischen Weg selbst und unabhängig von Moskau entscheiden – die sogenannte „Sinatra-Doktrin“ tritt in Kraft.

„You know the Frank-Sinatra-Song ,I Did It My Way‘? Poland and Hungary are now doing it their way.“
Gennadi Gerassimow, Sprecher des Sowjetischen Außenministeriums

„And now, the end is near, and so I face the final curtain.“
Frank Sinatra, „My Way“

Gysi stolz wie Oskar

"Also nach meiner Kenntnis, äh, sofort, unverzüglich." Günter Schabowski erblickt sich mit Zeitverzögerung selbst.
"Also nach meiner Kenntnis, äh, sofort, unverzüglich." Günter Schabowski erblickt sich mit Zeitverzögerung selbst.

© dpa

26. Oktober 1989 – Bundeskanzler Helmut Kohl und Egon Krenz, der neue starke Mann der DDR, sind zu ihrem ersten Ferngespräch verabredet. Fast aber platzt das Ost-West-Telefonat, weil Krenz bereits im Freizeichen eine Kritik an der Politik der DDR zu erkennen glaubt. 30. Oktober 1989 – Das DDR-Fernsehen stellt die montägliche Sendung „Der schwarze Kanal“ ein. Moderator Karl-Eduard von Schnitzler verabschiedet sich mit den Worten: „Der Klassenkampf geht weiter. Auf Wiederschauen.“ 4. November 1989 – Demonstration am Berliner Alexanderplatz. Teilnehmer: 1 000 000.

„WIR SIND KEINE FANS VON EGON KRENZ“
Transparent auf dem Alexanderplatz

6. November 1989 – Günter Schabowski besetzt den neu geschaffenen Posten des Sekretärs des ZK der SED für Informationswesen. Guter Mann. Egon Krenz hatte ihn wohl schon länger auf dem Zettel. 7. November 1989 – MTV Europe strahlt seine erste Sendung aus Ost-Berlin aus. Einschaltquote: 35 000 000.

„WIR SIND FANS VON ADAM AND THE ANTS“
Transparent auf dem Alexanderplatz

8. November 1989 – Günter Schabowski hält eine Rede im Zentralkomitee. Es geht um die Lenkung der Presse im Sinne der SED. Dabei verurteilt Schabowski, bisschen außer sich, auch die Berichterstattung aus der BRD als „die übelsten Methoden, also des Bodensatzes, der westlichen Presse“. Dann geht er ab. Für morgen ist eine Pressekonferenz anberaumt. Da wird er es dem Bodensatz, dem Westen, also einfach allen mal so richtig zeigen. 9. November 1989 – Anruf im ZK. Privatapparat von Günter Schabowski. Mal hören, wie es ihm geht, so kurz vor einer der wichtigsten Pressekonferenzen dieses Jahrhunderts. Freizeichen. „Schabowski!“ – „Ja, Günter, wir sind’s. Wann soll’s denn losgehen?“ Kurze Pause, Schabowski-Keuchen, er wirkt gehetzt, dann: „Also nach meiner Kenntnis, äh, sofort, unverzüglich.“ 10. November 1989 – Die Mauer ist gefallen. Auch Opfer unter den Deutschen. 11. November 1989 – Berlin. Der erste Schwabe betritt, bezeichnenderweise über die Bösebrücke an der Bornholmer Straße kommend, den Stadtteil Prenzlauer Berg und beginnt umgehend mit der Gentrifizierung. 12. November 1989 – Konzert für Berlin. Die Mitglieder der Gruppe Karat und Peter Maffay treffen sich in der Mitte der siebten und letzten Brücke, über die sie gehen müssen, und fallen sich in die Arme.

„Manchmal greift man nach der ganzen Welt.
Manchmal meint man, dass der Glücksstern fällt ...“
Karat, „Über sieben Brücken musst du gehen“

21. November 1989 – Bis zu diesem Tage ist es dem DDR-Fernsehen nicht gelungen, die Waldsiedlung Wandlitz zu besuchen. Kein Zutritt. Militärisch gesichertes Objekt. Nun aber stellt der für die Medienpolitik zuständige Günter Schabowski eine Drehgenehmigung in Aussicht. Auf die Nachfrage, wann diese vorliegen könnte, antwortet er: „Also nach meiner Kenntnis, äh sofort, unverzüglich.“ Die Wende? 22. November 1989 – Vorbei. Im Ost-Berliner Museum für Deutsche Geschichte wird die Ausstellung „Sozialistisches Vaterland DDR“ geschlossen. Sie soll überarbeitet werden. Die Geschichtsschreibung der DDR, nun ist auch sie Geschichte. 25. November 1989 – Mehr als 20 Jahre nachdem er durch die Kulturpolitik der SED verboten wurde, feiert der Film „Spur der Steine“ von Frank Beyer im Kino International seine Wiederaufführung. Unter den Gästen ist auch der 1977 in den Westen übergesiedelte Manfred Krug, der längst den nächsten Kracher in der Schublade hat: Die Spur der T-Aktien. Voraussichtliche Erstausstrahlung: November 1996. 27. November 1989 – Bundeskanzler Helmut Kohl erklärt im Bundestag, Ziel sei die Wiedervereinigung in maximal zehn Jahren. Kurz darauf fängt im Osten eine Landschaft spontan an zu blühen.

„Letzte Meldung: Bush und Gorbatschow für Olympische Spiele in Berlin. La Valetta (sid). US-Präsident Bush und der sowjetische Staatschef Gorbatschow haben sich für eine Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele im Jahr 2004 in beiden Teilen Berlins ausgesprochen.“
Aus dem Tagesspiegel vom 3. Dezember 1989

4. Dezember 1989 – David Hasselhoff beginnt sich dafür einzusetzen, dass Baywatch olympisch wird.

„Some people stand in the darkness
afraid to step into the light.
Some people need to help somebody
when the edge of surrender’s in sight.“
David Hasselhoff, „Baywatch Theme“, offizielle Hymne der Olympischen Spiele von Berlin 2004

9. Dezember 1989 – Der Rechtsanwalt Gregor Gysi wird neuer Parteivorsitzender der SED. Und ist natürlich stolz wie Oskar. Im Publikum ist die 20-jährige Sahra Wagenknecht deshalb für einen kurzen Moment hin und weg. Dann aber macht sie sich umgehend daran, das System von innen heraus zu erneuern. 20. Dezember 1989 – Der Film „Geboren am 4. Juli“ mit Tom Cruise kommt in die Kinos. Frank Schirrmacher, der schon bei „Top Gun“ Rotz und Wasser geheult hat, fasst in einem Frankfurter Kino den Plan, Cruise eines Tages den Courage-Bambi zu verleihen.

„Vielleicht ist die Nachkriegsperiode vorbei, aber jetzt beginnt wieder mindestens eine Vorkriegsperiode.“
Heiner Müller

22. Dezember 1989 – Quasi in letzter Sekunde gründet die „Gesellschaft für bedrohte Völker“ eine Niederlassung in Ost-Berlin. Wird sie den Untergang der DDR noch verhindern können? 24. Dezember 1989 – Achtung: Die in den Programmzeitschriften angekündigte Sendung „Weihnachten bei den Honeckers“ entfällt. 28. Dezember 1989 – Es wächst zusammen, was zusammengehört: Dem Rentner Herbert F. wird in der Charité der Gips entfernt. Er hatte sich bei einem Kniefall eine Patellafraktur zugezogen. 31. Dezember 1989 – Ach, hör mir doch auf mit den Achtzigern.

19. Februar 1943 – Goebbels hat kaum geschlafen. Was, wenn sie ,Nein!‘ gerufen hätten? Die schöne Rede! Der schöne Krieg!“ Das gesamte Buch mit 100 Jahren Weltgeschichte im Liveticker erscheint am Dienstag, 1. April, bei rororo. 240 Seiten, 9,99 Euro.

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