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20 Jahre Einheit: Doppelt regiert hält besser

Vor 20 Jahren wählten die Ost-Berliner ihre Stadtverordneten erstmals seit 1946 wieder frei. Der „Magisenat“ führte Berlin zur Einheit.

Die Botschaft des 6. Mai 1990 war klar: Die alte SED-Garde hatte auch im Roten Rathaus ausgedient. Mit der ersten und letzten freien Wahl zur Stadtverordnetenversammlung seit 1946 ging es heute vor 20 Jahren erst richtig los mit der Vereinigung der Stadt. „Berlin spricht wieder mit einer Stimme“, strahlten der Wahlsieger Tino Schwierzina und der Regierende Bürgermeister Walter Momper (beide SPD).

Der am 30. Mai, dem 63. Geburtstag des neuen Oberbürgermeisters Schwierzina, gewählte SPD/CDU-Magistrat (Ost) und der rot-grüne Senat (West) tagten bald nur noch gemeinsam, abwechselnd im Schöneberger und im Roten Rathaus. Die merkwürdige Doppelregierung, die nach dem 3. Oktober auch offiziell als Landesregierung fungierte, ging als Magisenat in die Annalen ein. Das Arbeitstempo war atemberaubend. Er wolle sein Amt so rasch wie möglich überflüssig machen, sprach der Oberbürgermeister. Staatssekretäre und Spitzenbeamte des Senats hatten nun auch „drüben“ zu tun. Die Idee, drei Senatoren zugleich im Magistrat als Stadträte zu platzieren, stieß allerdings allseits auf erregten Widerstand. Weise lächelnd winkte Schwierzina ab: „Man kann nicht gegen den Wind Klavier spielen.“ Unverhofft saß doch ein Wessi im Magistrat: Wirtschaftsstadtrat Elmar Pieroth (CDU), vormals Senator für Wirtschaft. „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes“, bekannte er auf PDS-Fragen nach seiner Staatsangehörigkeit.

Im ersten und letzten frei gewählten Magistrat waren alle außer Pieroth politische Laien, Ehrensache! Aber sie gingen mit revolutionärem Elan ans Werk, von dem Wunsch beseelt, die seit vier Jahrzehnten zerrissenen Fäden der Stadt zu verknüpfen. Und sie wussten aus dem beruflichen Alltag, wie man Schwierigkeiten meistert. Manch einer erwies sich als politisches Naturtalent, vor allem Schwierzina. Im Nu war er populär, immer zielsicher, eloquent, liebenswürdig und gelassen in all der Hektik. Selbstbewusst stand er neben Momper, politisch waren sie Zwillinge.

Am Anfang war Chaos. Zur Amtsübergabe mussten die Stadträte Thomas Krüger (Inneres) und Clemens Thurmann (Stadtentwicklung) ihre Abteilungsleiter erst herbeizitieren, die waren „zum Lehrgang“ oder hatten sich aus Angst vor der Abberufung selbst degradiert. Ganze 6000 Mark fand Baustadtrat Eckehard Kraft in der Kasse, „und die Baukombinate hatten keine Mark mehr für Sachausgaben.“

„Es war eine ungeheure Last und eine große Erfüllung, man spürte den Mantel der Geschichte“, sagt Irana Rusta, damals Kulturstadträtin, heute Unternehmensberaterin. Sie hätte gern „mehr Eigenes“ bewirkt, für die „Einheit auf Augenhöhe statt durch Anschluss, die Entwicklung hat uns überrollt“. Thurmann, jetzt Vorstand einer Wohnungsbaugenossenschaft, will nicht sinnieren: „Sicher, ich hätte auch länger mit Freude amtiert, aber ich war glücklich, dass die Einheit so schnell kam. Man hatte keine Zeit müde zu sein.“

Kraft war selig, als er am 13. Juni mit Bausenator Nagel im Bulldozer in der Bernauer Straße kräftig gegen die Mauer fuhr, es war das Startzeichen zum Abriss. Hinterher war er ein halbes Jahr arbeitslos, bis er wieder als Bauingenieur Fuß fasste. Vor zehn Jahren verließ er die SPD, empört über das Bündnis mit der PDS.

„Es war sogar lebensgefährlich“, meint Irana Rusta, sie und Kraft erhielten Morddrohungen. Klar, der Magisenat wollte die verhassten alten Kader hinwegfegen. Krüger schickte sämtlichen leitenden Angestellten die Kündigung mit dem Angebot, sich neu zu bewerben. Doch die „Aktion Besen“ löste Proteststürme aus. Die Sache wurde korrigiert, von 2000 Gekündigten mussten nur knapp 200 gehen.

Bei aller Hingabe an die Arbeit für die Einheit blieb die eigene Identität ganz wichtig. So sorgten die Stadtverordneten für eine kurzlebige Verfassung Ost-Berlins. Sie entsprach im Wesentlichen der West-Berliner, die dann für ganz Berlin übernommen wurde.

Die zerstrittene Senatskoalition zerbrach an der polizeilichen Räumung besetzter Häuser im Osten. Der Magisenat „Schwierzomper“ amtierte ohne die drei AL-Senatorinnen bis zur Wahl des schwarz-roten Gesamtberliner Senats unter Eberhard Diepgen am 24. Januar weiter. Schwierzina schied am 11. Januar aus; er wurde Vizepräsident des Abgeordnetenhauses. Schwer krank zog er sich 1995 zurück, 2003 starb er.

Krüger und Pieroth zogen in den Diepgen-Senat ein, ebenso die Stadtverordneten-Präsidentin Christine Bergmann, die 1998 Bundesministerin wurde. Krüger ist längst Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Für die meisten war es nach acht spannenden Monaten im Magistrat vorbei mit der politischen Karriere. Einige waren Abgeordnete, lange her. Was bleibt, ist die Genugtuung, Großes mitbewirkt zu haben. Brigitte Grunert

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