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Klaus Stenzel und Hans Christange

© Jana Scholz

25 Jahre Deutsche Einheit: Die Brieffreundschaft

Seit 19 Jahren pflegen Klaus Stenzel und Hans Christange einen deutsch-deutschen Dialog. Einig sind die sich selten.

Am 4. Oktober lesen Klaus Stenzel und Hans Christange in der Würzburger Friedrich-Ebert-Stiftung zum zehnten Mal aus ihrem Briefwechsel, der zwei Bände füllt. Wenn es nach Christange geht, wird es die letzte Lesung sein. Nach 19 Jahren kontroversen Diskussionen mit seinem Briefpartner sind dem 81-Jährigen die langen Reisen zu beschwerlich, und manchmal fehlt ihm auch die Lust. Schließlich ist es meist Christange, der bei Lesungen im Mittelpunkt steht, der gefragt wird, wie man in einem Unrechtsstaat glücklich gewesen sein könne. Die Autoren des Briefwechsels „Ost-West Denkstrukturen“ sind beide in Berlin geboren: der eine 1934 in Ost-Berlin, der andere 1960 in West-Berlin.

Der eine studierte an der Humboldt-Universität Jura und wurde 1965 Staatsanwalt für Gesetzlichkeitsaufsicht in der DDR; bis zu seiner Frühverrentung 1990 war er mit dem Arbeits-, Zivil-, Familien- und Verwaltungsrecht betraut. Der andere hörte als Dreijähriger in Schöneberg John F. Kennedy sagen „Ich bin ein Berliner“, studierte an der Freien Universität und wurde Gymnasiallehrer für Deutsch und Politik, als die Wende schon passiert war.

1996 nahm die Korrespondenz den Anfang

Der eine ist Linke-Mitglied, der andere gehört der SPD an. Der eine lebt in Cottbus, der andere in Speyer. Beide sind höchst aufmerksame Zeitungsleser, beide lieben politische Diskussionen, beide verfolgen gespannt die Tagespolitik. Aus Überzeugung würde Christange nie die „BRD-Hymne“ singen, doch auch Stenzel würde zum Tag der deutschen Einheit nicht die deutsche Flagge im Garten hissen, wie er mit einem Augenzwinkern erzählt.

Ihren Anfang nahm die Korrespondenz 1996, nachdem die Zeitung „Neues Deutschland“ Aufsätze von Klaus Stenzels Schülern abgedruckt hatte. Stenzel war damals mit seinen Darmstädter Schülern nach Magdeburg gefahren und auf eine ostdeutsche Schulklasse getroffen. Die Erfahrungen ließ er seine Schüler in Aufsätzen notieren.

Nach 14 Jahren getroffen

Auf den Zeitungsartikel hin erhielt er viele Leserbriefe, einer der „nachdenklichen und freundlichen Briefe“ kam von Hans Christange. Am Anfang noch zögerlich, mit der Zeit immer verbindlicher, entwickelte sich eine aufreibende Korrespondenz zwischen den ungleichen Männern: über die DDR als Unrechtsstaat, die Entlohnung in Ost und West, Reisefreiheit, über den Palast der Republik und seinen Abriss, Sahra Wagenknecht, Bundestagswahlen, die Macht der Medien, Ostalgie-TV-Shows, Alt-Nazis in der Politik, den Krieg in Jugoslawien und den Krieg gegen den Terror, und alle vier Jahre über die Fußball-Weltmeisterschaften.

Nach 14 Jahren teils aufreibenden Briefwechsels trafen sich Stenzel und Christange 2011 zum ersten Mal persönlich. „Christange war ein höflicher älterer Herr, der mir die Tür aufhielt und mir in die Jacke half.“ Stenzel spricht von einer „menschlichen Nähe“, und auch Christange sagt: „Der Eindruck des ersten Treffens war positiv. Uns verbindet mehr als eine briefliche Partnerschaft: eine persönliche Sympathie“. Hochs und Tiefs gab es in den vielen Jahren des Briefwechsels. Immer wieder brachte Stenzel in seinen Politikunterricht Briefe Christanges ein und ließ die Schüler Kommentare dazu schreiben. Die schickte er dann nach Cottbus.

Manche dieser Kommentare waren weniger respektvoll. „Das Ergebnis belehrt mich aber erneut über die teilweise bornierte Haltung der Schreiberinnen, die darauf hinausläuft, sie wüssten als Westdeutsche sowieso viel besser, wie wir DDR-Bürger gelebt haben“, erwiderte Christange einmal.

Ein Verlierer der Geschichte

Und fragte den Briefpartner: „Muss ich mir das in meinem Alter wirklich noch antun?“ Stenzels Antwort war immer wieder „ja“. Eben darum ginge es doch, sich ungewohnte und auch unangenehme Meinungen anzuhören und sie zu akzeptieren. „In der DDR hätte unser Briefwechsel nie erscheinen können“, sagt Stenzel. Bis heute sieht er es als seine Pflicht, auf die negativen Aspekte der DDR-Diktatur hinzuweisen, und an die Opfer und ihr Leid zu erinnern. Christanges Ansichten waren ihm oft zu einseitig. Trotzdem gab und gibt es einen Dialog.

Wie stur er sich manchmal auch geben mag, ist Christange jemand, der nach Lesungen von einer Menschentraube umringt im Gespräch ist, sich Zeit nimmt, der zuhört und letztlich jedem Gesprächspartner eine Chance gibt – „typisch Christange“, nennt das Stenzel. „Humanistisch“, nennt das Christange.

Christange lebt seit 42 Jahren in einem Plattenbaublock in Cottbus; in bescheidenen, sparsamen Verhältnissen, wie er sagt. „Durch die deutsche Einheit bin ich ein Verlierer der Geschichte“, sagt er. Lange war er nicht zufrieden im wiedervereinigten Deutschland.

Dem Osten den Rücken zugewendet

Das hat sich zuletzt jedoch geändert, denn er habe mittlerweile mehr Gleichgesinnte: „Heute bekunden viel mehr Menschen in Europa kapitalismuskritische Haltungen, als es noch in den ersten Jahren nach der Wende der Fall war.“ Und Stenzel, der Lehrer in Speyer, stellt fest, dass seine Schüler sich nicht sonderlich für den Tag der deutschen Einheit interessieren.

„Die Westdeutschen haben immer nach Westen geguckt und dabei dem Osten den Rücken zugewendet. Die Ostdeutschen blickten gleichfalls nach Westen. So konnten sich ihre Blicke nie treffen“, zitiert Stenzel den verstorbenen SPD-Granden Egon Bahr. Vielleicht ist es für viele Deutsche noch immer so. Stenzel und Christange wollten es anders machen.

Noch immer schreiben sich die beiden so verschiedenen Männer. Christange per Mail, Stenzel handschriftlich per Post. Veröffentlichen wollen sie aber nichts mehr. Der Akt der gegenseitigen Aufarbeitung der Geschichte zwischen den beiden sei beendet, sagt Christange. Das heißt aber nicht, dass sie aufhören, politisch zu sein. Christange ist sicher: „Wir wissen, wie wir mit geradezu konträren Ansichten an einem Strange ziehen um die BRD zu mehr sozialer Gerechtigkeit hin zu verändern.“

Jana Scholz

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