zum Hauptinhalt
Walter, nun freue Dich. Mit dem roten Schal war er einst Regierender Bürgermeister des plötzlich nicht mehr geteilten Berlins. In den Tagen zuvor hatte sich der Senat von West-Berlin auf alle Eventualitäten vorbereitet. Gut ein Jahr später musste er schon abtreten. Am Sonntag war er Gast bei den wichtigen Gedenkfeiern. Und flüsterte: "Schön".

© dpa

25 Jahre nach dem Mauerfall: Walter Momper, nun freue Dich!

Spätestens am 10. November 1989 wurde Walter Momper als Politiker in der ganzen Welt bekannt. Doch er regierte Berlin nur kurz. Das hat ihn verletzt – die Feiern am Wochenende versöhnten ihn.

Am 10. November gegen 7 Uhr morgens hebt eine bedrohlich große Militärmaschine vom Flughafen Tempelhof ab. Normalerweise transportiert dieses amerikanische Flugzeug Armeelastwagen und Panzer. An diesem Tag aber gibt es einen einzigen Passagier zu befördern, und der muss pünktlich um 9 Uhr im Bonner Bundesrat sein. Der Gast sitzt im großen Cockpit direkt hinter den Piloten und arbeitet an seiner Antrittsrede als Bundesratspräsident. Er wird sagen: „Gestern war das deutsche Volk das glücklichste Volk auf der Welt.“ Dann aber wird er zwei Sätze ans Ende setzen, die man sich noch heute durchlesen sollte, wenn man meint, dass der Herr, der in jenen Tagen meist einen roten Schal trug, kein Visionär gewesen sei: „Wir müssen die Mauer in unseren Köpfen beseitigen. Nichts wird in Europa so bleiben, wie es war…“ 25 Jahre später sitzt der damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, in seinem dunkelblauen Audi und fährt gegen 9.30 Uhr am Sonntagmorgen die Bernauer Straße entlang, biegt in die Anklamer Straße ein, schließlich in die Ackerstraße, „alles schon voll“, sagt er, „dann müssen wir eben ein Stück zurücklaufen“. Manchmal ist es nicht leicht, in der eigenen Geschichte anzukommen.

Der Mann mit dem roten Schal. Ein Kanzler, zwei Bürgermeister: Helmut Kohl, Walter Momper und der Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack am 22. Dezember 1989 vor dem Brandenburger Tor. Hier fielen Mompers Worte: "Berlin, nun freue Dich."
Der Mann mit dem roten Schal. Ein Kanzler, zwei Bürgermeister: Helmut Kohl, Walter Momper und der Ost-Berliner Oberbürgermeister Erhard Krack am 22. Dezember 1989 vor dem Brandenburger Tor. Hier fielen Mompers Worte: "Berlin, nun freue Dich."

© picture alliance / dpa

Momper parkt das Auto in der Strelitzer Straße Ecke Elisabethkirchstraße und steigt aus, um zur Gedenkveranstaltung der Stiftung Berliner Mauer zu gehen, wo er gleich die Bundeskanzlerin treffen wird. In die Sakkotasche hat er seinen roten Schal gestopft, den er sich noch schnell umwirft. Politische Symbolik, die die ganze Welt kennt, muss schließlich gepflegt werden. Der echte Schal allerdings, das Original, vergammelt im Kleiderschrank, ausrangiert, darauf steht in Grün gestickt: „Rot-Grün tanzt“ – ein Geschenk zur rot-grünen Koalition.

Lesen Sie hier noch einmal die Ereignisse vom 9. November im Liveblog

Die Alternative Liste (AL) ist längst vergessen, der Schal nicht. Momper sagt: „Ich habe das jetzt schon so oft mitgemacht, dieses Gedenken an den Tag, die Reden gehört und selbst Reden gehalten, aber es gibt immer wieder Momente, wo es mir noch kalt den Rücken herunterläuft oder ich einfach nur glücklich bin, dass es damals friedlich blieb.“ Es gibt so viel zu erzählen über diesen 9. November 1989 und das, was danach geschah. Und es ist womöglich schon alles erzählt worden, mehrfach auch – und doch wieder nicht. Denn diese kollektiven Tage der Freude sind zusammengesetzt von tausenden, ja Millionen einzelner Schicksale, Geschichten, Biografien. Eines davon, ein politisches Schicksal, war das des Walter Momper – es war ein glückliches und tragisches zugleich.

Chef einer chaotischen rot-grünen Regierung

Als der Sozialdemokrat, gebürtig in Sulingen, großgezogen von Mutter und Großmutter, und Kreuzberger aus Überzeugung, dank der guten Laune der Geschichte seinen politischen Olymp erklimmen durfte, zeichnete sich sein Scheitern bereits ab. Er war nicht nur der Regierende Bürgermeister einer Stadt, die er nun zusammenwachsen ließ und zusammenwachsen sah – er war auch der Chef einer chaotischen rot-grünen Regierung.

Wenige Tage vor dem 9. November sitzt Walter Momper in seinem Büro in Kreuzberg und mag zunächst nicht über Gefühle reden. Dieser Mann, das muss man wissen, ist eigentlich ein Spezialist darin, seine eigenen Emotionen wegzusperren. Aber diese dramatischsten 20 Monate seiner politischen Karriere haben ihn nicht nur weltbekannt gemacht, er wurde am Ende dieser kurzen Periode auch einfach abgewählt, nachdem die Koalition mit der AL zerbrochen war.

Diese Zeit hat ihn auch verletzt. Jetzt, nach 25 Jahren, fällt es ihm ein bisschen leichter, das selbst zu sagen. Momper guckt einen aus seinem wunderschön zerknautschten Gesicht an. Nach außen war er oft schroff und ungerecht zu manchen Mitstreitern, das Innere ließ er nur seine Ehefrau sehen. Er sagt: „Ich hatte in dieser Zeit immer großen Druck. Immer dachte ich, es passiert etwas, es gibt ein Blutbad, oder ich habe etwas nicht bedacht oder geregelt. Diese Wahlniederlage misst man ja am eigenen Arbeitseinsatz und der war gigantisch.“ Momper schluckt: „Dann kriegste vom Volk gesagt, das war’s!“

Blankes Entsetzen für eine Verwaltung

Dabei war dieser Walter Momper, heute 69 Jahre, an jenem 9. November 1989 der am besten vorbereitete Politiker Deutschlands. Dafür hatte er am 30. Oktober selbst gesorgt, indem er eine Urlaubssperre für die gesamte Senatsverwaltung erließ. Am 29. Oktober 1989, einem Sonntag, hatte er Ost-Berlin besucht und mit vielen gesprochen, mit Bärbel Bohley, Jens Reich, Manfred Stolpe und schließlich, auf Vermittlung Stolpes, mit Günter Schabowski, der ihm von der neuen Reiseregelung erzählte, die beschlossen werden sollte. Am Montag darauf ordnete er die Urlaubssperre an und forderte jede einzelne Senatsverwaltung dazu auf, eine Projektgruppe einzurichten, um sich auf den Tag X vorzubereiten. Und so kam es, dass der Momper-Senat über alle möglichen Details nachdachte, die zu bewältigen wären, sollte es einen „Sturm von hinten“ geben, wie man dachte, einen Ansturm von DDR-Bürgern.

Mompers persönlicher 9. November, seine Geburt als Weltpolitiker, der nach Moskau, London, Paris und Washington reiste, hatte deshalb erstaunliche Ambivalenzen: Pathos und Pragmatismus. Er schwankte zwischen offener Freude und dem ständigen Versuch, Kontrolle zu behalten, indem er zurückhaltend redete und lange To-Do-Listen akribisch abarbeitete. Wer darüber heute lacht, versteht nicht, dass dieser Tag des Glücks für eine Verwaltung auch blankes Entsetzen auslösen musste. Es gab so viel zu tun!

Die Polizei erarbeitete Szenarios, was passieren würde, sollte die Mauer gestürmt werden. Die Krankenhäuser wurden aufgefordert, ausreichend Blutkonserven anzulegen, ein höherer Kondombedarf wurde hellseherisch vorausgesagt, und die Alliierten wurden gefragt, ob sie DDR-Bürger nach Westdeutschland ausfliegen lassen könnten. Die Momper-Bürokraten fragten sich, wie kommen die Leute her, wie kommen sie weiter? Die BVG versprach, nach dem „Smog-Alarm-Plan“ fahren zu lassen. Diese akribische Detailplanung war ein Grund, warum Momper am 9. November nicht nur pure Freude verströmte, sondern bis mitten in die Nacht hinein an der Invalidenstraße warnte: „Bitte kommen Sie mit der BVG oder zu Fuß!“

Planungschef des Alltagswahnsinns

Später, nach dem 10. November, als täglich rund eine Million Besucher die Zweimillionenstadt West-Berlin flutete, geht es schon um die Wiederherstellung der vor Jahrzehnten gekappten Gasleitungen, Telefonanschlüsse, Wasserrohre, Straßenzüge und natürlich um die Frage, wann öffnen wir welche BVG- und S-Bahnlinien. Momper war in diesem Sinne der oberste Hausmeister oder Planungschef des Alltagswahnsinns.

An diesem 9. November sitzt Momper in der Kapelle der Versöhnung neben dem ehemaligen ungarischen Ministerpräsidenten Miklos Nemeth. „Das fand ich schon gut“, sagt er später. Denn Nemeth trug in seiner Amtszeit zum Fall des Eisernen Vorhangs bei, indem er die ungarischen Grenzanlagen an der Grenze zu Österreich abbauen ließ. Momper ist am Sonntag bei allen wichtigen Gedenkorten und -feiern zugegen, auch beim großen Festakt im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, lässt sich von Sandra Maischberger am Brandenburger Tor interviewen und darf neben Michail Gorbatschow am Abend einen der Heliumballons in den Berliner Himmel steigen lassen. Aber großen Applaus bekommt Walter Momper an diesem Tag nur bei seiner einzigen offiziellen Rede. Er hält sie im Museum für Kommunikation beim Kongress der deutschen Philatelisten, die er seit Jahren besucht. Das Publikum ist dankbar, klatscht, hört artig zu. Momper kann über diese Zeit, seine Zeit, reden wie ein nie versiegender Wasserfall. Er kennt jedes Detail dieses umfangreichen historischen Puzzles. Diese Geschichte ist seine Geschichte.

Plötzlich hält er inne – gerade erst hat er eine Anekdote an die nächste gereiht, nicht mürrisch, begeistert – und nun fragt er schüchtern: „Darf ich denn noch ein bisschen weitererzählen?“ Gelächter, Applaus, klar doch! Und Momper, selbst irgendwie ziemlich gelöst, sagt: „Wir sind doch immer noch ein glückliches Volk!“

Die Einheit stand nicht auf der Tagesordnung

Das politische Glück endete für Walter Momper am 2. Dezember 1990. Die Abgeordnetenhauswahl fand zeitgleich mit der ersten gesamtdeutschen Wahl statt. Momper hatte stets versucht, das Thema Wiedervereinigung hinten anzustellen, aber wurde, wie viele andere, von der Geschichte überrollt. Die Berliner SPD war damals überhaupt nicht auf Wiedervereinigung eingestellt, und schon gar nicht die AL, die allein das Wort Einheit heftig bekämpfte. Momper wiederum sagt noch heute: „Die Einheit stand nicht auf der Tagesordnung, ich habe mich an dem Ziel der DDR-Opposition orientiert.“ Diese schrieb in jenen Tagen einen offenen Brief an die Landsleute, in dem stand: „Wir bitten Sie, bleiben Sie in Ihrer Heimat, bleiben Sie bei uns. Was können wir Ihnen versprechen? Kein leichtes, aber ein nützliches Leben.“

Das Leben des Walter Momper wurde nach dem 2. Dezember nicht leichter, zurück in die große Politik fand er nie wieder. 1992 trat er als Landeschef zurück, 1995 verlor er den internen Kampf um die Bürgermeister-Kandidatur gegen Ingrid Stahmer, 1999 gewann er in der SPD gegen Klaus Böger, verlor aber das Bürgermeister-Rennen wieder gegen Eberhard Diepgen von der CDU.

Am Samstag, beim SPD-Sonderparteitag, waren diese unsichtbaren Wunden für Sekundenbruchteile zu sehen, nach seinem mit Standing Ovations gefeierten Grußwort. Da stand er vorn auf der Bühne, nun Polit-Pensionär, links neben ihm der scheidende Regierende Klaus Wowereit, rechts der künftige Regierende Michael Müller, und war gerührt. Langer Applaus, herzliche Zurufe, Momper hält sich an einem Strauß roter Blumen fest und flüstert: „Schön.“ Am nächsten Tag im Auto ist er entspannt. Versöhnt mit seiner Geschichte. „Ja doch, ist schon schön!“ Nun freut er sich.

Zur Startseite