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Berlin: 35 lange rote Rosen Berliner Verbrechen: Die Krimi-Autorin Pieke Biermann erzählt wahre Fälle

Geturtelt und geknutscht haben sie noch. Roland hatte Blumen für Ingrid mitgebracht. Zum Geburtstag. Kurz darauf war Ingrid tot. Überall Blumen, überall Blut. Was hat Timmi gesehen, Ingrids kleiner Junge?

Warn schöner Tach gewesen“, sagt Herr Lenk schulterzuckend. Was soll er groß sagen? War alles wie immer gewesen an jenem 17. September vor vier Jahren. Normal. Und plötzlich bricht solche Gewalt in seine Welt ein.

Herrn Lenks Welt ist ein kleiner Kiez gleich östlich vom Bersarinplatz. Aus dem Lädchen auf der Rigaer Straße, in dem Riccardo Lenk* aushilft, kann man die Zellestraße hoch sehen. Hier wohnen einige der Stammkunden, für die er von morgens sechs bis abends acht feilbietet, was man so braucht, bevor man zur Arbeit fährt. Beziehungsweise – das ist in diesem Teil von Friedrichshain häufiger – wenn man keine Arbeit hat. Zigaretten, Alkohol, Zeitungen, ein paar Lebensmittel. Ach, und was zum Naschen für die Kinder.

Ganz oben in einer Platte in der Zellestraße wohnt Ingrid Walter mit ihrem Sohn. Timmi ist im August sechs geworden. Mittags hat er noch vorm Lädchen in der Sonne gesessen und Eis gegessen, und Ingrid hat Geburtstagsrunden Büchsenbier für ihre Kiezfreunde geschmissen. War doch vor zwei Tagen 35 geworden. Und hatte ausnahmsweise mal keinen Krach mit ihrem neuen Freund, Roland. Im Gegenteil, geturtelt und geknutscht haben die! Dann hat Ingrid noch ein paar Büchsen Bier gekauft, und alle drei sind zu ihr geschlendert.

Plötzlich kurz vor fünf steht „der Robbi“, wie er ihn komischerweise nannte, wieder im Laden und sieht wüst aus. Er brauche eine Flasche Whisky. Jetzt sei sowieso alles egal. Er habe „die Olle umgelegt“. „Wir ham den erst gar nicht für voll genommen“, sagt Riccardo Lenk, heute 36 und auch arbeitslos. „Ich hab dem den Whisky sogar noch verkooft!“ Dabei hat Roland Lerch Blut an der Hose und wird vor den andern noch deutlicher: „Die Waltern is tot. Die hat mich wieder belöffelt. Ich hab ihr die Kehle durchjeschnitten und ’n Bauch aufjeschlitzt.“ Und geht mit Johnny Walker in seine eigene Wohnung.

Ab da überschlagen sich Ereignisse, in denen niemand der kleinen Runde geübt ist. Ein paar rennen die Zellestraße hoch: Blaulicht. Einer sieht die Feuerwehr vor Ingrids Wohnung auf die Polizei warten und tritt kurzerhand die Tür ein. Kann doch sein, dass die noch lebt! Ingrid Walter lebt nicht mehr. Ihr Leichnam klemmt zwischen Sessel, Couchtisch und Bettcouch. Auf ihrem Oberkörper sind 35 lange rote Rosen mit den Blüten Richtung Kopf drapiert. Für den ersten Blick verbergen sie zwei tiefe Bauchstiche, einen Schnitt am Hals und Würgemale. Die massiven Verletzungen im Gesicht, das verbogene Brotmesser auf dem Sessel und das viele Blut überall überdecken sie nicht. Aber was ist mit Timmi?

Die Ereignisse überschlagen sich an diesem schönen Septemberfreitag auch für Leute, die immer damit rechnen müssen. Im Polizeiabschnitt 61 in der Friedenstraße ist gleich Schichtwechsel. Die Schichten gehen von sechs bis sechs, ab etwa fünf herrscht immer Gewusel. Die Frühschicht bereitet die Übergabe vor, die Spätschicht duscht nach dem Dienstsport und legt allmählich Uniform an. Der neue Wachleiter checkt die StreifenwagenTeams, damit sein Laden spätestens Punkt sechs läuft und er sich auch umziehen kann.

Normalerweise. Heute kommt kurz vor halb sechs die Meldung: mögliches Tötungsdelikt Zelle/Ecke Bänsch. Da muss der Wachleiter selbst mit raus und den Einsatz leiten, bis die Kripo-Kollegen aus der örtlichen Direktion eintreffen. Die von der „VB I“ oder „Sofortbearbeitung“ übernehmen, bis die Mordkommissare vom LKA da sind. Und so gerät Frank Thiele, damals 36, Polizeikommissar und Wachleiter, in ein absurdes Dilemma: Soll er ohne Uniform raus? Soll er den Laden aufhalten? Aber bei einem Tötungsdelikt darf das keine Rolle spielen! Gott sei Dank sind die andern schon korrekt gekleidet – der gleichaltrige Polizeihauptmeister Frank Baecker und die beiden „Jungschen“, Polizeikommissar Steffen Haubold, gerade zurück von der Fachhochschule, und Polizeimeister Stephan Buchecker. Gute Leute, alle drei, weiß Thiele. Schutzwesten haben sie auch schon an. Vor Ort erfahren sie rasch, dass es einen dringend Tatverdächtigen gibt. Und dass Herr Lenk nicht nur weiß, wie der heißt – er weiß auch, wo der wohnt. Könnte der Idealfall werden: eine schnelle Festnahme.

Bei VB I dynamisieren sich die Ereignisse zur selben Zeit. Carmen Ihlenfeld ist eine Stunde früher in der Direktion 6 in der Wedekindstraße. Die 34-jährige Kriminalkommissarin muss noch mit dem Schichtleiter reden – der ist ihr Mann, und der hat gleich Feierabend und fährt nach Hause, zu den Kindern. Kollegin Danny müsste ebenfalls noch nicht da sein, und als Team eingeteilt sind die beiden auch nicht. „Aber der Einsatz lief an, mein Mann kuckt mich an – ,Würdet ihr fahren?‘ – Na, logisch!“ Sie schüttelt die blonden Locken.

Am Tatort erfahren beide, es gibt ein Kind, und das soll auch noch Tatzeuge sein. „Mir war klar: Da muss ich ran. Ich mach die Arbeit schon ’n paar Jahre, ich hab selber Kinder – ich weiß, das Erste, was Kinder erzählen, ist ihr eigener Eindruck.“ Carmen geht sofort um die Ecke in die Bänschstraße, wo die Schwester der Toten lebt und Timmi sein soll.

Der Rigaer Kiez ist ein Kleine-Leute-Kiez. Kaum Bäume. Kaum Farbe. Altbauten mit Einschüssen und Graffiti, die Neubauten „Platte“. Was hier nicht „Natur“ ist, ist noch „Plaste“. Hier ist Roland Lerch 1957 geboren. Zu Eltern und Schwester bricht er früh jeden Kontakt ab, eine Ehe hält nicht lange, den Sohn ignoriert er ebenso wie eine frühere uneheliche Tochter. Er lernt Zimmermann, geht statt zur NVA zur Bereitschaftspolizei und hat fortan wechselnde Jobs. Fährt mal Kohlen, baut mal Maschinen, Gerüste, Särge, schafft mal auf dem Bau. Er verdient nicht schlecht, ist aber „Quartalssäufer“, seit der Lehre. Riccardo Lenk kennt ihn als guten Kunden, „aber der war nie aggressiv, selbst wenn er stinkbesoffen war. Sie war eher der Typ, der bei ’n paar Bierchen zu viel ausflippt“, sagt er nüchtern.

Ingrid Walter ist seit zwei Jahren „in ABM“, bei einer Behindertenorganisation, kommt morgens und nachmittags bei Herrn Lenk vorbei, meist auf einen Kaffee, und führt ein aufgeräumtes Leben in einer aufgeräumten Zweiraumwohnung. Das Kinderzimmer voll Spielzeug, keine Schulden.

Etwa im Juni 1999 treffen Ingrid und Roland sich im Lädchen. Er ist eben verurteilt worden wegen Verletzung der Unterhaltspflicht und sucht eine Frau. Sie hatte bisher wenig Glück mit Männern. Von Timmis Vater lebt sie lange getrennt, eine andere Beziehung endete brutal: Ihr Freund, ein Polizist, schoss sich mit der Dienstwaffe in den Kopf, während sie mit Timmi im Nebenzimmer schlief. Vielleicht erklärt das den rüden Ton, wenn sie etwas getrunken hat. Sie wird schnell ausfallend. Dann können alle sie „mal am Arsch lecken, die Penner, die Fotzen“. Auch „der Robbi“, der vor allem. Für eine „frische Beziehung“, findet Herr Lenk heute, „haben die sich eigentlich zu viel gestritten. Aber sonst – ganz normal.“ Das ganz normale Hü und Hott – mal siebter Himmel, mal will sie ihn loswerden. Weil er säuft, weil er keine Arbeit sucht, weil er ihr auf der Tasche liegt. Einmal, im Juli, haut er ihr dafür einen Schneidezahn raus. Aber normalerweise schnappt er, wenn sie ihn mal wieder „belöffelt“, seine Sachen und geht in seine Zweiraumwohnung. An ihrem Geburtstag genauso. Er hatte Riccardo extra noch hundert Mark gegeben, damit der 35 extra langstielige rote Rosen besorgt. Und die lässt die einfach links liegen! Wie die CDs für zweihundert Mark! Als Carmen Ihlenfeld mit Timmi allein ist, sagt er: „Ich weiß, dass meine Mama tot ist.“ – „Das war sein Erstes“, erzählt die Kommissarin. „Dann ist alles aus ihm rausgesprudelt. Dass sie sich geschlagen haben. Dass ,der Robbi‘ die Mutti gewürgt hat und zweimal mit dem Messer in den Bauch gestochen und den Hals aufgeschnitten. ,Die Mutti sah eklig aus‘, hat er gesagt. Ihm ist übel geworden. Er hätte fast gebrochen.“

Timmi kam aus dem Kinderzimmer gerannt, als er seine Mutter hatte schreien hören. Und er war dageblieben, obwohl „der Robbi“ das Brotmesser hatte und drohte, er sei der nächste. Er wollte doch „die Mutti beschützen“, erklärt er der Kommissarin mit den offenen blauen Augen, die ihn einfach auf dem Schoß wiegt, dabei schweigt, ihn nicht ausfragt.

Der Plattenbau in der Liebigstraße ist schäbiger als der in der Zellestraße. Eine Platte auf der Hinterseite der Frankfurter, früher Stalinallee. Die Haustür ist zugeschlossen, als Thiele, der jetzt wenigstens eine Schutzweste anhat, und seine drei korrekt Uniformierten ankommen. Roland Lerch scheint sich also auf Polizei eingerichtet zu haben – hätten sie doch lieber ein Spezialeinsatzkommando anfordern sollen? Eigensicherung ist oberstes Gebot, für bewaffnete Täter ist nun mal das SEK zuständig. Das wäre aber erst in frühestens vierzig Minuten da. Und alle speziell ausgebildeten Zivilbeamten der Direktion sind selbst gerade in Einsätzen. Deshalb hatten die Schupos nach Besprechungen mit den Kripos beschlossen: Wir machen das.

Die Haustür kracht beim ersten Tritt auf. „Zwei Treppen“, dirigiert Riccardo Lenk, den sie zwecks Identifizierung im Schlepptau haben. Die Wohnungstür ist auch kein Problem. Aber was ist dahinter? Ist Lerch bewaffnet? Womit? Gegen ein Messer reichen die Westen wohl, aber – wie ist er drauf? Volltrunken? Ausgerastet? Thiele lässt Baecker die Tür eintreten und die beiden „Jungschen“ Feuerschutz geben, bevor er als erster reingeht. „Ich hatte die Verantwortung.“ Punkt. Der Rest war, wie alle beschreiben, eine Art eingesprungener Houdini rückwärts: Thiele steckt im Flug seine Pistole weg und wirft sich auf Lerch, Buchecker wirft sich hinterher und beide werfen Lerch, der sich zu aller Erleichterung nicht groß wehrt, bäuchlings aufs Sofa und legen ihm Handfesseln an. Ab da organisiert Baecker alles perfekt für die Spurensicherung: Ordnet zwei Blutproben bei Lerch an – wegen des „Nachtrunks“. Lässt ihm die Hände abkleben, eine Tüte drüber schieben und ihm die Turnschuhe mit der blutverschmierten Profilsohle ausziehen, deren Abdruck – aber das können sie noch nicht wissen – auf Ingrids Gesicht ist. Und schließlich die Wohnung für die Kripo versiegeln.

Nach Gewalttaten, bei denen man mit Schockzuständen von Zeugen oder Angehörigen rechnen muss, werden heute immer auch Betreuer alarmiert. Meistens sind das Notfallseelsorger der beiden christlichen Konfessionen. Diese „NFS“ leisten seit 1995 gut organisiert „Erste Hilfe für die Seele, an allen Menschen unabhängig von ihrer religiösen Bindung“. „Sie schickt der Himmel!“, stöhnt Thiele auf, noch bevor sich Jörg Kluge, damals 47, ein ganz und gar „ziviler“ Typ, als Pfarrer vorgestellt hat. Kriminalkommissarin Ihlenfeld dagegen guckt ihn zuerst verblüfft hat – irgendwie hatte sie eine Frau erwartet. Aber Pfarrer Kluge hat die Teddys dabei, die bei Kindern so beliebt sind. Mit Feuerwehr- oder Polizeiuniform. Die sind weich, die kann man knuddeln, die können Knoten lösen. Timmi will den Feuerwehr-Teddy, weil – naja – der andere, da denkt er sofort an den Freund seiner Mutter, der sich erschossen hat. Pfarrer Kluge erklärt auch Timmis Verwandten, was noch kommen kann. Dass Timmi vielleicht nicht schläft in nächster Zeit. Oder einnässt. Oder Flashbacks hat und sich unnormal benimmt. Und dass sie dann nicht schimpfen dürfen.

Das akuteste Problem ist aber: Wie kriegt man den Kleinen aus der Wohnung seiner Tante, vor der Reporter hin- und herflitzen und Fernsehkameras aufgebaut sind, unbemerkt zu seinem Vater? „Ja, das war ’n kleines Husarenstück“, sagen Thiele und Ihlenfeld. Nicht dass sie generell was gegen „die Presse“ haben. Thiele ist inzwischen selbst Pressemann der Direktion. Aber hier hat der Schutz des Kindes absoluten Vorrang. Punkt. Also haben sie einen Zivi-Wagen organisiert und Timmi exakt in dem Augenblick weggefahren, als sich alle Medienleute darauf stürzten, dass Ingrids Leichnam aus dem Haus getragen wurde.

„Ich bin heute noch stolz!“, sagt Carmen Ihlenfeld. Thiele geht es ebenso. „Ja – der ganze Einsatz, auch die Zusammenarbeit zwischen Kripo und Schupo, das hat geklappt wie am Schnürchen.“ Er war natürlich besonders froh, dass die Festnahme so glatt lief. Sie haben alles richtig gemacht. Dieser ruhige, professionelle Stolz lässt auch Platz für die tragischen Seiten des Anlasses.

Carmen Ihlenfeld erinnert sich bis heute an fast jedes Detail, denkt, wenn sie an der Zelle- Ecke Bänschstraße vorbeifährt, noch immer: „Hier war das.“ Und Frank Thiele hat die Sache mit Timmi, der mit sechs schon zwei gewaltsame Tode miterlebt hatte, nie losgelassen. „Zehn ist er jetzt – und Vollwaise. Sein Vater ist inzwischen auch gestorben."

Alle Hinterbliebenen haben „teuer bezahlt“ für Roland Lerchs Tat. Der selbst hat neun Jahre abzusitzen, für die Tötung und die Tötungsdrohung gegenüber Timmi. Riccardo Lenk hat den Eindruck, dass er sich mit seiner Tat nicht groß auseinander setzt. Er besucht ihn hin und wieder im Gefängnis. Warum, weiß er eigentlich auch nicht. Der hat ihn halt gebeten. „Ich bin so veranlagt. Vielleicht zu gutmütig?“ Seit dem Tag jedenfalls achtet er, sagt er, mehr auf die Leute. Das Pärchen von gegenüber etwa, das auch „mit Tassen und Tellern schmeißt, wenn se gesoffen ham“. Denn dieser an sich so schöne Tag, der war hinterher – „also, ’n Scheißtach war das! Da wird ei’m plötzlich bewusst, wie vergänglich doch das Leben ist, so manchmal. War ja nich vorauszusehen, dass da so ’ne Tragödie draus wird. Is schon ’n bisschen komisch alles.“

* Namen geändert

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