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Erna F. und ihr Verteidiger im Landgericht Neuruppin. Die 74-Jährige wurde am Donnerstag freigesprochen.

© dpa

42 Jahre nach Tod eines Jungen in Schwedt: Gericht spricht Mutter vom Vorwurf des Kindsmords frei

Eine 74 Jahre alte Frau war vor dem Landgericht Neuruppin angeklagt, 1974 ihren achtjährigen Sohn ermordet zu haben. Doch den Richtern reichten die Beweise nicht aus.

Von Sandra Dassler

So voll war der Saal 2 im Landgericht Neuruppin schon lange nicht mehr. Am Donnerstag sprach die 1.Große Strafkammer die 74-jährige Erna F. vom Vorwurf frei, vor 42 Jahren ihren achtjährigen Sohn ermordet zu haben. Begründung: Auch nach umfangreichen Ermittlungen, 15 Verhandlungstagen und fast zwei Dutzend Zeugenaussagen lasse sich nicht zweifelsfrei feststellen, was in der Nacht vom 4. auf den 5.November 1974 in der Schwedter Wohnung von Erna F. und ihren drei Kindern geschah.

Staatsanwältin prüft Revision

Das Gericht schloss sich damit der Forderung des Verteidigers an. Staatsanwältin Anette Bargenda will nun prüfen, ob sie das noch nicht rechtskräftige Urteil in Revision gehen wird. Sie hatte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen Mordes gefordert, weil sie davon ausging, dass Erna F. ihren schlafenden Sohn Mario in die Küche getragen hatte. Dort soll sie den Gasherd aufgedreht und den Jungen eine tödliche Dosis einatmen lassen. Danach habe sie den Achtjährigen zum Sterben zurück ins Bett gebracht.

Es kann so aber auch anders gewesen sein

Nach Auffassung des Gerichts kann es so gewesen sein. Es kommen aber auch noch andere Geschehensabläufe in Betracht, sagte der Vorsitzende Richter Udo Lechtermann. So könne der Junge tatsächlich am Gasherd gespielt und von jemand anderen gefunden worden sein. Oder die Mutter habe es „nur" unterlassen, ihn zu retten. Damit habe sie sich möglicherweise der Tötung schuldig gemacht – verurteilt werden könne aber nur Mord, da alles andere längst verjährt sei. Und eben diesen Mord könne man Erna F. nicht mit Sicherheit nachweisen.

Tatmotiv unklar

Zudem habe sich für das Gericht kein ausreichendes Tatmotiv herauskristallisiert – auch wenn der Achtjährige als schwierig galt. Die belastenden Aussagen einiger Zeugen zum Beispiel des Notarztes, der damals gerufen worden war, seien nicht frei von Widersprüchen. Dahinter stehe kein böser Wille, sondern einfach nur die unglaublich lange Zeit, die seither vergangen sei, sagte der Vorsitzende Richter. Auch eine Tochter von Erna F., die ausgesagt habe, dass sie und ihre Schwester in dieser Nacht bei der Mutter und nicht im Kinderzimmer schlafen mussten, war sich vor Gericht nicht mehr hundertprozentig sicher.

Keine Anklage in der DDR

Festgestellt war 1974 allerdings, das Mario F.an einer Kohlenmonoxid-Vergiftung starb. Erna F. hatte stets behauptet, dass es ein Unfall gewesen sein müsse und dass sie den leblosen Jungen erst am Morgen im Bett entdeckt habe. Das Verfahren gegen die attraktive Chefsekretärin im Petrolchemischen Kombinat Schwedt war zu DDR-Zeiten ohne Anklage eingestellt worden.

Erna F. war 1987 in die Bundesrepublik ausgereist und lebt mittlerweile in Göttingen. Aufgrund einer anonymen Anzeige, in der ihr der Kindsmord vorgeworfen wurde, begann die Staatsanwaltschaft mit erneuten Ermittlungen, da Mord nach bundesdeutschem Recht nicht verjährt.

Stasi-Gerüchte nicht bestätigt

Gerüchte, wonach der DDR-Staatssicherheitsdienst Erna F. gedeckt haben soll, hätten sich trotz intensiver Recherche nicht bestätigt, sagte der Vorsitzende Richter. Und gab zu, dass ihn dieser Fall „unbefriedigt und ratlos“ zurücklasse. Dem Rechtsstaat zumindest sei Genüge getan. Der Tod des kleinen Mario aber bleibt weiter ein Rätsel.

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