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70 Jahre Kriegsende: Das verschleppte Kind

Regina Lawrowitsch wird mit zehn Jahren von den Deutschen zur Zwangsarbeit quer durch Europa gebracht – erst als Rentnerin konnte sie darüber sprechen.

Sie saß schon im Auto, als der Deutsche sie im Nacken packte. Ob er ein Soldat war, ein SS-Mann oder ein Polizist, weiß Regina Lawrowitsch heute nicht mehr. Aber dieser Moment veränderte ihr Leben. Das Auto sollte sie, ihre Mutter und andere Verwandte aus einem Sammellager der Deutschen in Weißrussland zurückbringen in ihr Heimatdorf. Doch dann kam dieser Deutsche und warf sie aus dem Auto. Mutter und Geschwister mussten ohne sie fahren. Zehn Jahre alt war sie damals. An dem Tag sei sie schlagartig erwachsen geworden, sagt Regina Lawrowitsch.

In dem Dorf Osowez in der weißrussischen Sowjetrepublik verbringt sie eine glückliche Kindheit, bis der Krieg kommt. Hitler-Deutschland greift die Sowjetunion an, Reginas Vater wird Rotarmist und muss an die Front. Die Mutter ist gerade mit dem fünften Kind schwanger. Das Dorf liegt mitten im Partisanengebiet, die Kämpfer leisten den Deutschen erbitterten Widerstand.

Eines Tages wird das Dorf bombardiert und brennt nieder. Die Bewohner müssen in den Wald ziehen. Als die Front näher kommt, beschließen die Familien, sich zu ergeben. „Auf einem Schlitten fuhren wir mit weißen Fahnen aus dem Wald heraus“, erinnert sich die heute 82-jährige Regina Lawrowitsch. Deutsche Soldaten mit Maschinengewehren kommen direkt auf sie zu. Aber die Soldaten schießen nicht, sie sperren die Menschen in eine Scheune und sagen, wenn die Partisanen nur einen Schuss abgäben, würden alle verbrannt. „So saßen wir die ganze Nacht da. Wir haben auf den Tod gewartet.“ Zum Glück passiert nichts in jener Nacht, die Dorfbewohner werden in ein Lager gebracht.

16 Tage in einem Viehwaggon unterwegs

Reginas Tante entdeckt in diesem Lager einen Bekannten, der bei der Polizei ist. Er erreicht, dass die ganze Familie nach Hause zurückkehren darf. Alle, bis auf Regina, die aus dem Wagen gezerrt wird. Warum der Deutsche das getan hat? Das weiß sie bis heute nicht.

Wenig später wird das Kind in einem Viehwaggon aus der Heimat verschleppt. Ganz allein, ohne Mutter, ohne andere Angehörige. Es ist entsetzlich eng in dem Waggon. Weil keiner auf Regina aufpasst, muss sie während der Fahrt eingezwängt neben dem Eimer mit Exkrementen sitzen. 16 Tage lang. Es gibt Momente, in denen sie nur noch sterben will.

Im französischen Cherbourg ist Endstation. An der Küste wird der Atlantikwall gebaut, damit die Alliierten dort nicht landen können. Tausende Zwangsarbeiter, darunter die Weißrussen, sollen diesen Wall bauen. Am ersten Morgen muss Regina Lawrowitsch mit den Erwachsenen zur Arbeit gehen. „Ich habe mit der Spitzhacke ausgeholt und bin umgefallen.“ Von da an bleiben die Kinder im Lager. Sie putzen die Kommandantur und helfen in der Küche.

Der Alltag ist von Hunger geprägt, im Lager gibt es mittags kein Essen, weil die Arbeiter nicht da sind. Manchmal betteln die Kinder durch die vergitterten Fenster um Essen, damit ihnen die, die draußen vorübergehen, etwas zustecken.

Regina Lawrowitsch. Die pensionierte Ingenieurin leitet heute in Weißrussland eine Organisation für Menschen, die als Kinder Zwangsarbeit leisten mussten.
Regina Lawrowitsch. Die pensionierte Ingenieurin leitet heute in Weißrussland eine Organisation für Menschen, die als Kinder Zwangsarbeit leisten mussten.

© Kai-Uwe Heinrich

Als Erstes sieht sie Gemüsebeete

Im Juli 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie, wird das Lager evakuiert. Regina und die anderen werden nach Deutschland gebracht, in ein Arbeitslager bei Stuttgart. Die Zwangsarbeiter müssen nach den Bombenangriffen die Trümmer wegräumen. In diesem Lager erlebt Regina einen kurzen Moment der Befreiung. Mehrere Frauen graben ein Loch unter dem Stacheldraht, Regina soll hindurchkriechen. „Plötzlich war ich in Freiheit.“

Als Erstes sieht sie Gemüsebeete. Sie nimmt sich so viele Zwiebeln wie möglich. Doch wohin jetzt? „Ich dachte: Was soll ich tun? Ich kann nicht einmal die Sprache.“ Also kriecht sie durch den Tunnel ins Lager zurück. „Mit den Zwiebeln bin ich durchs Lager marschiert und war sehr stolz.“ Ein Wachmann entdeckt Regina mit dem Gemüse und schlägt sie so sehr, dass sie auf die Krankenstation muss.

Ihre richtige Befreiung erlebt sie auf einem Feld liegend, irgendwo im Norden Baden-Württembergs. Sie und die anderen Häftlinge warten einfach ab, bis die Schüsse aufhören und die Amerikaner da sind. Für die Kinder beginnt nun wirklich eine Zeit der Freiheit. Sie streifen überall herum. „Wir hatten keine Angst mehr, vor niemandem, vor nichts.“

Ehemalige Häftlinge haben es schwer in der Sowjetunion

Zu Hause in Weißrussland findet sie ihre Mutter und zwei Geschwister wieder, die anderen beiden sind an Tuberkulose gestorben. Der Vater ist im Krieg gefallen. Auch sie selbst ist in den Lagern an Tuberkulose erkrankt, doch ihre Mutter pflegt sie gesund. Kurz nach der Heimkehr lässt die Mutter Regina vor dem Porträt des toten Vaters niederknien. Sie soll schwören, dass sie niemandem sagt, was ihr passiert ist. Die Mutter hat Angst, dass ihre Tochter sonst nicht studieren könnte. Denn ehemalige Häftlinge haben es nicht leicht in der Sowjetunion der Stalin-Zeit. „Man liebt uns auch jetzt nicht, damals hat man uns gar nicht gemocht.“

Erst im Rentenalter kann Regina Lawrowitsch über das sprechen, was sie erlebt hat. Heute leitet die pensionierte Ingenieurin in Weißrussland eine Organisation für Menschen, die als Kinder Zwangsarbeit leisten mussten. Sogar ihrem Mann erzählte sie erst nach 25 Ehejahren von der Verschleppung aus der Heimat, dem Zug, der Zwangsarbeit. „Aber ich habe ihn vor der Hochzeit gewarnt. Ich habe ihm gesagt, dass ich komische Angewohnheiten habe, dass ich nachts schreie.“ Das seien die Folgen des Krieges, behauptete sie.

Warum sie ihm so lange nichts erzählt hat? Regina Lawrowitsch hält kurz inne, atmet tief ein und sagt dann: „Es ist ein schwieriger Prozess, damit anzufangen. Wenn ich das erzähle, habe ich jetzt noch Tränen in den Augen. Dabei ist es schon 70 Jahre her.“

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