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9. November: Mauerfall und Pogrome - Berlin im Spagat der Gefühle

Für viele Berliner ist der 9. November ein Tag zwischen Freude und Scham. Längst stecken auch Touristen Rosen in die Spalten der Mauer. Ein kleiner Gedenkmarsch durch die Stadt.

Berlin – Es muss jetzt einfach mal raus. Obwohl gerade über ein ganz anderes Thema gesprochen wird. Schließlich geht es hier um die freie Rede. Also schnappt sich die kleine Frau mit der Bauchtasche und der Sonnenbrille das Mikrofon und sagt: „Heute vor 73 Jahren war die Reichspogromnacht. Es wurden jüdische Geschäfte geplündert und keiner hat etwas unternommen.“ Dann gibt die Frau, die offensichtlich das Down-Syndrom hat, das Mikrofon dem Moderator zurück. Der steht auf einem Podest aus Holzpaletten vor dem Brandenburger Tor mit Blick auf die Siegessäule.

Hier findet gerade das „Berliner Speakers’-Corner-Event“ statt: Um den 9. November auf besondere Weise zu würdigen, ist die originale Speaker’s Corner aus dem Londoner Hydepark für einen Tag nach Berlin verlegt worden – vom Londoner Speaker’s Corner Trust und dem Berliner Zentrum für Politische Schönheit.

Das Motto: „Wir sind das Volk! Die Kraft der freien Rede“ – passend zum Gedenken an den Mauerfall. Jeder, der etwas zu sagen hat, darf auf die Bühne. Die Organisatoren haben auch „Profis“ eingeladen. Etwa Levi Salomon, Beauftragter der Jüdischen Gemeinde für die Bekämpfung des Antisemitismus: „Wir erinnern uns heute an das schöne Ereignis des Mauerfalls und das fürchterliche der Novemberpogrome gleichzeitig. Man darf keins von beiden isoliert sehen.“ Ähnlich klingt das bei Uwe Lehmann-Brauns, Alterspräsident des Berliner Abgeordnetenhauses: „Wir müssen am 9. November mit dem Spagat zwischen Freude einerseits und Scham und Trauer andererseits leben.“

Es sei immer noch ein „täglicher Grund zur Freude, dass man hier am Brandenburger Tor einfach so hin- und hergehen kann“, sagt Gesine Schwan, Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance. Dann mahnt sie: Die Meinungsfreiheit sei bedroht. Und zwar dadurch, dass immer unklarer würde, ob noch die Politik oder schon die Wirtschaft „die Oberhand“ habe: „Wenn man in einem ökonomischen System lebt, wo man am Arbeitsplatz nicht den Mund aufzumachen wagt, bringt auch eine solche Speaker’s Corner wenig.“ Aus dem Publikum ruft jemand laut „Danke“. Es wird noch um viele Themen gehen auf dem Podium: Um die beschränkte Pressefreiheit in Russland, um Korruption bei deutschen Abgeordneten und die Finanzprobleme alter Menschen in Seniorenheimen etwa. Dafür hat Philipp Ruch, politisch motivierter Künstler und Gründer des Zentrums für politische Schönheit, eigens zwei sehr alte Damen im Rollstuhl zum Brandenburger Tor bringen lassen und interviewt sie dort. Es wird auch darum gehen, ob der Konzern Google die Meinungsfreiheit gefährdet – Google sponsort die Rede-Veranstaltung und wird hinterher Videos davon ins Internet stellen.

Vor allem aber dominiert an diesem Tag das Thema Wirtschaftskrise – und die Angst, die am 9. November 1989 gewonnene Demokratie dadurch wieder zu verlieren: „Was ist das nur für ein System, in dem die Krisen immer länger werden und immer mehr Menschen treffen“, fragt eine Rednerin namens Kerstin mit weißer Schlumpfmütze auf knallroten Haaren. Und das Zentrum für politische Schönheit schickt einen Schauspieler auf die Bühne, der einen „autokratischen Bundeskanzler einer etwas unangenehmen Zukunft“ darstellt. Er erzählt, wie er an die Macht gekommen ist, als „das Kartenhaus Europa“ zusammenfiel und „die demokratisch gewählten Führer“ gescheitert sind.

Sogar bei der traditionellen Gedenkveranstaltung zum Mauerfall an der Bernauer Straße geht es immer wieder um die Krise: „Neben der Freude steht die Sorge, alles erreichte könnte untergehen in der Finanzkrise – erwachsen aus der Gier der globalen Welt“, sagt Pfarrer Manfred Fischer in seiner Ansprache in der Kapelle der Versöhnung in Anwesenheit des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. Freiheit funktioniere eben nicht ohne Verantwortung, fährt der Pfarrer fort. Ähnlich sagt es auch DDR-Bürgerrechtler Ehrhart Neubert. Auch er kommt bei seiner Ansprache an den Resten der Hinterlandmauer auf die Wirtschaftskrise. Und dann stecken die Besucher wie jedes Jahr Rosen in die Spalten der Mauer, sogar zwei Touristinnen aus Hongkong. Auch das ist Globalisierung. Daniela Martens

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