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Berlin: Abnehmen mit Köpfchen

Viele Berliner Kinder sind zu dick, weil sie sich zu wenig bewegen. Ein Projekt hilft ihnen, ihren Körper wiederzuentdecken

Der Luftballon darf den Boden nicht berühren. Auf keinen Fall! Zeynep, Felix (Name geändert) und Justina schwitzen, sind aber hoch konzentriert, während sie die Sprossenwand hinaufklettern und gleichzeitig die Ballons in der Luft halten. Zeynep streckt sich vergebens – ihr Ballon sinkt hinab. „Nicht schlimm“, tröstet Trainer Sven Tellner-Reimann. Zeynep kriegt trotzdem einen Punkt, schließlich hatte sie es fast bis zur obersten Sprosse geschafft. „Jawoll, weiter, weiter“, ruft der Trainer. Noch mal die Kletterwand hoch, dann steht die nächste Übung an.

Justina und Zeynep sind zehn Jahre alt, Felix ist elf – und alle drei sind weit vom Normalgewicht in ihrem Alter entfernt. Deshalb laufen, turnen und spielen sie zweimal pro Woche in der Halle und auf dem großen Rasenplatz des Sport-Gesundheitsparks Berlin an der Forckenbeckstraße in Wilmersdorf. Sie sind drei von 300 Kindern und Jugendlichen, die an dem Projekt „Fit mit Fidelio“ teilnehmen, das übergewichtigen Kindern und Jugendlichen helfen soll, Pfunde zu verlieren und ihr Leben besser zu meistern. „Die meisten der Kinder in unseren Kursen haben einen Body- Maß-Index von 28 bis 30“, sagt Tellner- Reimann. Der BMI setzt Größe und Gewicht in Relation zueinander. Bis zu einem Ergebnis von 25 ist man normalgewichtig, ab 30 dagegen adipös, also krankhaft fettleibig. „Zehn Kilo Übergewicht kann bei Kindern schon sehr schlimm sein“, sagt Tellner-Reimann.

„In meiner Klasse gibt es zehn andere Kinder, die auch zu dick sind“, sagt Justina aus Lichtenrade. Die Statistiken bestätigen solche Beobachtungen: Es gibt heute doppelt so viele übergewichtige Kinder in Deutschland wie vor 15 Jahren und dreimal so viele Jugendliche. Bei den Einschulungsuntersuchungen in Berlin kam heraus: Zwölf Prozent der Erstklässler sind zu dick. „Das hat wenig mit dem Essen zu tun, auch wenn sich die meisten Menschen falsch ernähren“, sagt Endré Puskas, Sportwissenschaftler und Leiter des Kindersports des Zentrums. „Es liegt vielmehr daran, dass Kinder sich nicht mehr bewegen. Sie sind die Opfer einer passiv gewordenen Gesellschaft.“ In den Siebzigern habe sich ein Kind im Schnitt dreieinhalb Stunden pro Tag bewegt. Jetzt seien es nur noch 20 Minuten.

Beim Fidelio-Projekt sollen die Kinder nun „ihren Körper wieder entdecken“. Die Methode: Sie sollen viele kleine Erfolgserlebnisse haben. Deshalb dauern die Spiele, Übungen und Sportarten jeweils nur fünf Minuten: Nach dem Klettern geht es etwa weiter mit einer Runde Hockey – mit Medizinbällen oder mit den Luftballons. „Alles, was man neu lernt, ist erst mal mit einem Erfolg verbunden“, erklärt Puskas. Was auch beim Training sehr wichtig ist: „Die Trainer müssen ständig loben.“ Und die Punkte, die es für die Übungen gibt, dienen ebenfalls als Ansporn und Belohnung. So erleben die Kinder Sport endlich einmal anders als im Schulunterricht, wo die Übergewichtigen selten erfolgreich sind.

Aber die Trainer allein können wenig ausrichten. Das Problem liegt meistens in den Familien: 80 Prozent der Eltern übergewichtiger Kinder seien ebenfalls zu dick, sagt Sportwissenschaftler Andreas Heißel, der über das Fidelio-Projekt promoviert. Die Eltern sollen deshalb mit ins Boot geholt werden. 70 Mütter und Väter konnten Puskas und seine Mitarbeiter schon überzeugen, ebenfalls im Sportzentrum zu trainieren. „So wollen wir auch das Sportverhalten der Familien in der Freizeit verändern“, sagt Heißel. Zusätzlich zu den zwei Sportstunden pro Woche gibt es auch regelmäßig Kochkurse mit einem Ernährungswissenschaftler und Ernährungsberatung. „Es geht um Ernährung und Sport – und am wichtigsten ist die psychologische Komponente. Wir fördern die Autonomie der Kinder und Jugendlichen und ihr Selbstbewusstsein.“ Deshalb haben die Mitarbeiter eine Zusatzausbildung zum Adipositas-Trainer.

Dass Übergewicht viel mit der Psyche zu tun hat, bestätigen auch die Kinder: „Ich habe so sehr zugenommen, seit meine Eltern nicht mehr zusammen sind“, sagt etwa Justina. Der schüchterne Felix sagt selbst nur leise: „Ich habe zu viel Ungesundes gegessen. Zu fettige Sachen.“ Seine Mutter erklärt es ausführlicher: Sie sei alleinerziehend und habe als Altenpflegerin sehr wenig Zeit für ihren Sohn, mit all den Schicht- und Wochenenddiensten. „Als er Probleme in der Schule bekam, hat er nur noch vor dem Fernseher gesessen und Süßigkeiten gegessen.“ Um mit ihm abends oder am Wochenende noch etwas Sportliches zu unternehmen, sei sie oft zu müde.

Felix ist jetzt seit zwei Jahren so dick. Er hat noch gute Chancen, abzunehmen: „Je jünger die Teilnehmer sind, desto eher nehmen sie tatsächlich ab“, sagt Puskas. Deshalb geht es jetzt zum Schluss noch ein paarmal um den Sportplatz, immerhin 520 Meter sind eine Runde. Die Kinder schaffen das – aber meistens noch eher im Schritt als im Trab.

Auskünfte zu dem Projekt: www.fit-mit-fidelio.de. 18 Euro kostet das Training, die ersten 50 Stunden werden oft von der Krankenkasse übernommen. Mehr Informationen zur Adipositas-Sprechstunde im Sozialpädiatrischen Zentrum unter http://spz.charite.de. Weitere Angebote unter www.uebergewicht-berlin.de

 Daniela Martens

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