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Hatice Akyün.

© Andre Rival

Mein Berlin: Ahnungslos im Westen

Vom Mauerbau hat sie kaum etwas mitbekommen, Berlin war für eine aus dem Ruhrpott so weit weg wie New York. Die Eltern tuschelten mit anderen türkischen Eltern über die "cilgin", die verrückten Berliner Türken. Unsere Autorin erinnert sich.

Schreib doch was zu „50 Jahre Mauerbau“, sagte ein Freund. Was könnte ich schon über den Mauerbau erzählen? Ich bin noch nicht mal von hier, quasi angeschwemmt worden, damals mit den Schwaben und ihren Start-up-Companies. Berlin war für eine aus dem Ruhrpott so weit weg wie New York oder Rio, und damit meine ich nicht die geografische Distanz. Berlin war sogar für Duisburger Lehrer so weit, dass wir unseren Schulausflug lieber in die benachbarten Benelux-Länder machten.

So wenig wie ich vom Mauerbau mitbekommen habe, so wenig bekam ich auch von der Mauer selbst etwas mit. Ich hatte nicht mal Freunde in Duisburg, die ihren Verwandten im Osten Päckchen schickten. Meinen ersten Ost-Kontakt hatte ich mit dem Ende der Mauer, als ich einen Ostberliner in einer Duisburger Disko kennenlernte. Kurz darauf fuhren wir mit meinen Opel Corsa nach Ostberlin, weil man dort angeblich das Dreifache für Westautos bekam. Entsetzt, dass man mir gerade mal die Verschrottungsgebühr bot, fuhr ich wieder nach Duisburg. Mein zweiter Berlinbesuch war, als Christo den Reichstag verhüllte.

Heute frage ich mich, ob meine Unwissenheit daher rührte, dass wir Gastarbeiterkinder aus Westdeutschland die alte BRD so verinnerlicht hatten, dass die meisten nie über eine Zukunft jenseits des Eisernen Vorhangs nachdachten oder ob es sein kann, dass man als Türkin, die in Deutschland aufwächst, so mit dem Alltag beschäftigt ist die Gegenwart der zwei Welten zu meistern, dass Geschichte und Geschichten des Landes, in dem man lebt, keine praktische Relevanz haben.

Jahre später erfuhr ich an der Uni, was ich alles verpasst hatte: Im Bummelzug den Speisewagen leer trinken, in Westberlin Punkerkneipen besuchen, in besetzten Häusern schlafen, beim Besuch in Ostberlin den Zwangsumtausch ausgeben oder sich mit den Werken von Bertolt Brecht, Anna Seghers oder Fjodor M. Dostojewski eindecken. Die Kommilitonen erzählten mir aber nichts von den Mauertoten, die bei Fluchtversuchen ums Leben kamen, oder den Toten, die bei Grenzkontrollen oder Verhören einen Herzinfarkt erlitten. Westberlin, diese eingemauerte Insel, das Paradies für westdeutsche Jünglinge, die sich vor dem Wehrdienst drückten, Berlin, die am Tropf des Bundeshaushalts hängende Halbstadt, war mir eine unbekannte Größe.

Meine Eltern waren froh, dass Berlin weit weg von uns war. Mit anderen türkischen Eltern tuschelten sie hinter vorgehaltener Hand über die „cilgin“, die verrückten Berliner Türken. Manche erzählten auch, dass es jene am schlimmsten getroffen habe bei der Einwanderung. Sie müssten alle an der Mauer wohnen, dunkel sei es dort, sogar die Sonne würde sich in Berlin nie zeigen. Deshalb gingen sie in Bars und Kneipen, sogar auf den Straßen würden sie tanzen.

Wir Kinder im Ruhrpott haben die Berliner Türken dagegen immer beneidet. Sie hatten einen eigenen Radiosender, es gab türkischsprachige Theater und sogar Kinos, die türkische Filme zeigten. Für unsere Eltern war Berlin ein Ort der Sünde, für uns dagegen die Vorstellung von Freiheit und Identität.

Der Bau der Mauer liegt 50 Jahre zurück. Meiner Tochter bringe ich die Geschichte ihres Landes bei, damit sie mindestens die nächsten 50 Jahre besser Einfluss nehmen kann. Sie ist ein Berliner Kind. Oder, wie mein Vater sagen würde: „Davulun sesi uzaktan hos gelir“ – aus der Ferne klingt die Trommel angenehm.

Die Autorin lebt als Schriftstellerin und Journalistin in Berlin. Ihre Kolumne erscheint jeden Montag.

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