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Berlin: Alfred Seppelt (Geb. 1929)

Folglich sprach er jeden an: „Spielen Sie Schach?“

Allein ist man selten ein ganzer Mensch. Das wusste Alfred Seppelt nur zu gut, auch wenn er nie ein Wort darüber verlor.

„Sag doch mal Mutti, dass du sie liebst!“, forderte ihn einer seiner Söhne zuweilen auf. „Ach, was soll das denn“, wehrte er ab. „Das ist doch klar!“ Für ihn war es vom ersten Moment an klar, als er sie sah, wie sie zum Bäcker ging, 1959 war das, in Schöneberg. Er wartete, bis sie wieder aus dem Laden kam, sprach sie an, und sie wurden ein Paar. Er, der Bestimmer, sie, die Frau an seiner Seite. Aber so selbstherrlich diese Männer der Wirtschaftswunderjahre öffentlich auch auftraten, so schwach und unfertig waren sie daheim. „Welche Hose soll ich heute anziehen, Katharina?“ Stilfragen waren nicht seine Sache, das entschied sie. Es war ein Pakt auf Lebenszeit, den sie schlossen. „Kraul mich mal“, und dann kraulte sie ihn oder er sie.

Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Und es blieb Liebe, auch wenn es Streit gab. „Eigentlich haben wir uns nie gestritten.“ – „Papa, alles vergessen, wie du gebrüllt hast, wie ihr euch gezankt habt?“ Er hatte es vergessen. Sie hatte es nicht vergessen, aber sie sah auch, wie weit sie gemeinsam gekommen waren. Sie liebte ihre Söhne, die Enkelin, sie liebte die gemeinsamen Reisen und das Haus, das sie zum Zuhause gemacht hatte. Das mag für Außenstehende zuweilen so gewirkt haben, als sei sie die Dienende gewesen. Aber das Erfolgsgeheimnis der bürgerlichen Ehe war, dass die Frau den Mann glauben ließ, er habe alles unter Kontrolle, während sie still dirigierte. Ihre Kraft gab ihm Selbstvertrauen für sein öffentliches Wirken.

Jeder in Berlin, der Schach spielte, kannte Alfred Seppelt, und Alfred Seppelt wollte jeden auf der Welt kennenlernen, der willens war, eine Partie zu spielen, folglich sprach er auch jeden an: „Spielen Sie Schach?“ Er war gut, er war sehr gut, aber er wusste auch, es gab Bessere. Er kannte die ganz Großen, Spasski, Fischer, Karpow, Kortschnoi, und er kümmerte sich im Verband mit Sorgfalt um die Amateure. Erstaunlich viele Menschen spielen Schach, da lag die Idee nah, in Berlin große Schachturniere zu veranstalten, gern auch mit der politischen Prominenz. Alfred Seppelt war ein großer Organisator, einer aus der Generation der Macher, deren Glaubensbekenntnis lautete: „Wenn ich es nicht mache, macht es keiner.“ Nur darf man nicht vergessen, dass seine Frau die Buchhaltung erledigte und den Schriftverkehr und immer ein gutes Wort hatte, wenn ihr Mann zuweilen aneckte.

Auch bei seinen Söhnen. Er war wortkarg, was das Loben anging. Worunter Kinder sehr leiden können. Das Höchste war: „Ich hab’ keinen Fehler festgestellt.“ Wie unterschiedlich Eltern ihre Liebe zeigen können. „Fahr bitte vorsichtig!“ Ohne diese Mahnung ließ sie ihre Söhne nie aus dem Haus. Er hingegen wollte kontrollieren: „Sofort anrufen, wenn du da bist!“ Es war ihm wichtig, keine Sorgen haben zu müssen. Ist das Egoismus oder die Angst vor Verlust?

Als sie krank wurde, wusste er damit nicht umzugehen. Er war ja selbst viel kränker. Aber Arthrose ist nicht schlimmer als unheilbarer Krebs. Er wollte ihre Krankheit nicht begreifen, er wollte nicht, dass sie stirbt. Seine Demenz nahm zu. Er ließ sich von ihr umsorgen und musste dann doch ins Pflegeheim.

Als er nicht mehr im Haus lebte, war es dort ruhig. Zu ruhig. Sie vermisste die Aufgabe, die ihr mit ihm gegeben war. Einen Tag vor dem 53. Hochzeitstag starb sie. 20 Kilo hat er in den Wochen danach abgenommen. „Wo ist denn Mutti?“, fragte er jeden. Immer wieder sprach er auf den Anrufbeantworter daheim: „Katharina, ruf doch mal zurück!“

In den vier Monaten, die er sie überlebte, wollte er kaum mehr essen oder trinken, er wollte ihr einfach nur hinterhersterben. Ab und an spielte er mit seinem Betreuer Schach. Kaum saß er am Brett, war er gradlinig, siegeshungrig. „Machen Sie es doch nicht so langweilig!“ Sechs Tage vor seinem Tod zog er mitten in der Partie einen Bauern übers gesamte Feld. Er gab auf.

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