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Berlin: Ali, der „Killer Boy“

Angeklagt wegen 35 Straftaten: Prozess gegen 14-jährigen Chef einer Gang

Der Junge, der flankiert von zwei Wachtmeistern in den Gerichtssaal geht, ist gerade mal 14 Jahre alt. Es ist für ihn der erste Prozess. Doch Ali (Name geändert) gilt längst als jugendlicher Serientäter. Er muss sich seit gestern wegen einer Serie von 35 Straftaten verantworten. Ali soll – teils allein, teils mit Komplizen – in Bussen, U-Bahnhöfen oder auf der Straße andere Jugendliche überfallen und Geld, Handys oder MP3-Player erbeutet haben. Nach den Erkenntnissen der Polizei wird im Prozess gerademal die Hälfte der Raubtaten verhandelt, die auf das Konto des 14-Jährigen gehen sollen. Nach seiner Festnahme Ende Mai sprachen Ermittler von etwa 70 Überfällen und acht Mittätern. Sie gingen auch davon aus, dass Ali der Anführer der Jugendgang war, die sich selbst als „Neuköllner Killer Boys“ bezeichnete.

Ali habe die Vorwürfe in ersten Vernehmungen bei der Polizei zum Teil zugegeben, sagt seine Verteidigerin am Rande des nichtöffentlichen Prozesses. Der Junge arabischer Herkunft sitzt seit sechs Monaten in Untersuchungshaft. Was ihn auf die schiefe Bahn brachte? „Die Umstände“, sagt seine Verteidigerin. „Seine Staatsangehörigkeit ist ungeklärt, er hat keinen festen Halt in der Gesellschaft.“ Die Haft habe ihn aber sehr verändert. „Zum Positiven hin“, ist die Anwältin überzeugt. Sie will eine Bewährungsstrafe durchsetzen. Ali habe sich mit seinem bisherigen Leben auseinandergesetzt, wolle jetzt das „normale Leben eines Jugendlichen“ führen.

Das wird der 14-Jährige wohl auch selbst vor Gericht beteuern. Doch was passiert, wenn er erst wieder im Neuköllner Kiez unterwegs ist und dort die alten Kumpels trifft? Die Staatsanwaltschaft wollte nichts riskieren, beantragte gestern einen weiteren Haftbefehl – und bekam ihn auch kurz vor Beginn des Prozess um die 35 Fälle des schweren Raubes, der Erpressung, der Körperverletzung sowie des unerlaubten Waffenbesitzes. Für das Verfahren hat das Gericht bislang drei weitere Verhandlungstage vorgesehen.

Mittlerweile sind die Neuköllner „Killer Boys“ schon wieder Geschichte, „die spielen seit dem Frühsommer keine Geige mehr“, hieß es bei der Neuköllner Kripo. 50 bis 70 junge Araber sollen sich damals zu den Killer Boys gezählt haben. Um bei Gleichaltrigen an Geld, Telefon oder MP3-Player zu kommen, reichte in den ersten Monaten dieses Jahres die Ansage: „Ich bin NKB. Gib Handy“, berichtete ein Beamter. Die sonst übliche Drohung „sonst gibt es was aufs Maul“ konnten sich Ali und seine Jungs meist sparen.

Anders als früher seien Jugendbanden heutzutage sehr locker strukturiert, „ohne Statuten, ohne regelmäßige Treffen, ohne einheitliche Kleidung“. Vor Jahren, erinnert sich ein Kreuzberger Polizist, hätte die „Simsek“-Gang (türkisch für „Blitz“) noch einheitlich ein Blitz-Symbol auf der Jacke getragen, heute ist der Einheitslook laut Polizei außer Mode. Und die Gruppenstrukturen ändern sich ständig. Mittlerweile sei der Stern der Nachfolgeorganisation der „Killer Boys“, die „Arabian Gangster Boys“, schon wieder im Sinken begriffen. Die Halbwertszeit der Gangs liege bei einem halben Jahr, schätzt ein Beamter.

Ali und seine Kumpanen hatten sich auf Spielplätzen getroffen, die Killer Boys „gegründet“ und waren dann von dort auf Raubzug gegangen. „NKB war schick und trendy“, beschreibt der Kripobeamte diese „lockere Interessensgemeinschaft“. Ali hatte sich selbst als Gründer und Anführer der Gang gesehen, heißt es bei der Polizei. Ihr Machtbereich war der Streifen östlich der Karl-Marx-Straße bis zum Landwehrkanal. Wie man zum Anführer wird? Laut Polizei gibt es da eine einfache Regel: „Größtes Messer, größte Fresse ist der Chef.“ Die meisten der Kinder und Jugendlichen seien kleine Lichter, neben Ali gab es bei den NKB noch ein Brüderpaar von 13 und 15 Jahren, die bei der Staatsanwaltschaft ebenfalls als Intensivtäter geführt werden. Fast alle seien türkisch- oder arabischstämmig, hieß es. Von den gut 400 jugendlichen Serienttätern in Berlin seien knapp 120 aus Neukölln und Kreuzberg – und von denen trügen zwei einen deutschen Namen, sagte ein Polizist.

Ali die Taten nachzuweisen, sei kein Problem gewesen, hieß es. Monate habe es aber gedauert, zu belegen, dass der Junge bereits 14 Jahre alt – und damit strafmündig ist. Ali wurde als palästinensisches Flüchtlingskind in einem Lager geboren, in seinen Papieren wird kein Tag, sondern nur das Jahr 1992 angegeben. Die Eltern behaupten, dass das Kind erst Mitte des Jahres geboren sei. Bei einer eigens zu diesem Zweck angesetzten Hausdurchsuchung fand die Polizei den Impfpass, ausgestellt von der Weltgesundheitsorganisation. Darin heißt es präziser: Januar – dies war der fehlende Beweis, dass Ali strafmündig ist.

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