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Berlin: Alles, was Recht ist

Jugendämter können auch gegen den Willen der Eltern eingreifen – so steht es im Grundgesetz

Von Sandra Dassler

Immer wieder werden in Berlin und Brandenburg vernachlässigte Kinder entdeckt – und immer wieder verweisen Vertreter der Jugendämter darauf, sie hätten rechtlich keine Handhabe, gegen den Willen der Eltern einzugreifen. Wolfgang Schimmang (SPD), Neuköllns Volksbildungsstadtrat, widerspricht den Kollegen – und verweist auf das Grundgesetz, was zwar die Unverletzlichkeit der Wohnung garantiere, aber ausdrücklich nicht „bei Gefahr in Verzuge“, sagt Wolfgang Schimmang.

Schimmang bezieht sich auf Artikel 6, Absatz zwei und drei des Grundgesetzes: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen“.

Auf diesen Passus beziehen sich die Jugendamtsmitarbeiter beim so genannten Neuköllner Modell. 30 bis 40 Mal pro Jahr verschaffen sie sich mit Hilfe der Polizei auch gegen den Willen der Eltern Zutritt zu Wohnungen, etwa wenn Kinder trotz mehrfacher Aufforderung nicht in der Schule erscheinen. „Natürlich ist es sinnvoller und besser, wenn man Eltern hilft, ihre Versorgungs- und Erziehungsaufgaben wahrzunehmen“, sagt Schimmang. „Aber glauben Sie mir: Wir haben in Neukölln etwa drei bis fünf Prozent Eltern, die erreichen wir auch mit den besten Angeboten nicht. Wenn man da mit den gescheiterten Hilfsangeboten auch die Kontrollfunktion aufgibt, wird man der Verantwortung den Kindern gegenüber nicht gerecht.“

Jüngstes Beispiel für Ämterversagen ist für Schimmang der Fall der beiden Jungen, die im brandenburgischen Blankenfelde von der Polizei im ungeheizten Anbau eines Hauses in verwahrlostem Zustand angetroffen worden waren. Wie berichtet, hatte das Jugendamt die Familie betreut, aber keine Fehler bei sich gesehen. „Dabei wussten die, dass die Kinder unter unzumutbaren hygienischen Bedingungen leben“, kritisiert der Neuköllner Stadtrat. Das gab das Jugendamt Luckenwalde selbst zu. 2004 war der heute sechsjährige Rosario für vier Wochen in eine Pflegefamilie gekommen. Er hatte Brandwunden und das Jugendamt schätzte ein, dass diese unter den gegebenen hygienischen Bedingungen im Elternhaus nicht heilen würden. Nach vier Wochen war Rosario gesund und kehrte nach Hause zurück. Spätestens da hätte man die Eltern zwingend verpflichten können, die hygienischen Bedingungen zu ändern und das in kurzen Zeitabständen kontrollieren müssen.

Der Stadtrat spricht sich auch dafür aus, ärztliche Reihenuntersuchungen zur Pflicht zu machen. Zum einen könnte man dadurch rechtzeitig Gesundheitsdefizite bei Kindern entdecken, die von den Eltern nicht bemerkt würden, weil sie dazu geistig nicht in der Lage seien. Zum anderen habe das Wissen darum, dass die Kinder einmal im Jahr notfalls mit der Polizei zum Arzt gebracht werden, eine vorbeugende Wirkung: „Wenn ich weiß, dass mein Kind irgendwann zum Arzt muss, kann ich es nicht Jahre lang in einem kleinen Raum einsperren oder es regelmäßig grün und blau schlagen.“

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