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Schlüssel zur Teilhabe: die Schriftsprache.

© Arno Burgi/dpa

Alphabetisierungskurse in Berlin: Die Angst vor den Buchstaben besiegen

Rund 320.000 Menschen in Berlin können nicht richtig lesen und schreiben – und wollen verstanden werden. Die wenigsten sind Migranten. Doch ihnen fällt das Lernen besonders schwer.

Madleine legt das Bild des Mondes auf das Wort „Mund“. Die Lehrerin schüttelt den Kopf. Man wird sich plötzlich bewusst, wie minimal – rein von der Sprache her – der Unterschied zwischen Mund und Mond ist. Gleicher Artikel, gleiche Buchstaben, nur die Mütze auf dem „u“ fehlt in der Mitte von „Mund“.

Madleine ist mit 38 Jahren die jüngste Teilnehmerin im Alphabetisierungskurs. In Syrien hat sie nur die Grundschule absolviert. Ihr Ehemann Zaiya sitzt neben ihr, versucht zu helfen, wenn die Lehrerin Madleine etwas fragt. Er ist ein paar Jahre länger zur Schule gegangen. In Berlin sind die beiden Syrer seit zwei Jahren. Sie sitzen gemeinsam mit fünf anderen Menschen in einem länglichen Raum der syrisch-orthodoxen Kirche an der Potsdamer Straße in Tiergarten. Heute geht es um den Buchstaben M. Als Beispiel für Betonung und Schreibweise eignet sich schon Mal die Berliner Mauer ganz gut.

Der Kurs zum Lesen und Schreiben lernen wird von der Initiative „ABCami“ angeboten. Cami ist das türkische Wort für Moschee. Dort hat das Projekt 2012 in Berlin auch begonnen – in Moscheen in Kreuzberg, Wedding und Spandau. Der Fokus lag damals auf türkischen Migranten, erst seit 2016 werden auch Kurse für Flüchtlinge angeboten.

320.000 Analphabeten in Berlin

„Es geht darum Menschen zu erreichen, die herkömmliche Bildungsangebote wie etwa an der Volkshochschule, nicht nutzen“, sagt Regionalkoordinator Özcan Kalkan. Das sei vor allem bei Geflüchteten und Migranten der Fall. Darum versuche das Projekt, den Unterricht in Gemeinschaftseinrichtungen zu holen, mit Lehrenden, die die Menschen kennen und denen sie vertrauen. Dann sei die Hemmschwelle geringer, so Kalkan. Finanziert werden die Kurse vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der „Dekade der Alphabetisierung“, die das Bundesbildungsministerium 2015 ausgerufen hatte.

Vor allem bei Flüchtlingen ist oft nicht der Analphabetismus das Problem, sondern der Umstieg von arabischer auf lateinische Schrift. Lahdo Sarkis war Lehrer für Arabisch und Aramäisch in al-Hasaka im Nordosten Syriens. Jetzt muss er selber nochmal zum Unterricht. Neben ihm sitzt Josef Jakub. Der 61-Jährige war früher Schneider und kann seinen Namen noch nicht auf Deutsch, also in lateinischer Schrift schreiben.

Klassenfoto. Madlein Shimon, Zaiya Arian, Lahdo Sarkis, Josef Jakub, Elishwa Yachanis, Nawal Sabagha und Roa’a Aron (v.l.n.r) lernen mehrmals pro Woche gemeinsam.
Klassenfoto. Madlein Shimon, Zaiya Arian, Lahdo Sarkis, Josef Jakub, Elishwa Yachanis, Nawal Sabagha und Roa’a Aron (v.l.n.r) lernen mehrmals pro Woche gemeinsam.

© Melanie Berger

Das größte Problem ist in Berlin der sogenannte funktionale Analphabetismus. Eine betroffene Person kann einzelne Wörter oder Sätze zwar lesen und schreiben, ist aber mit zusammenhängenden Texten überfordert. Laut Schätzungen sind hier davon etwa 320.000 Menschen betroffen, also rund 14 Prozent der Bevölkerung. Die Mehrheit davon hat Deutsch als Muttersprache. Das besagt eine bundesweite Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011 – die Zahlen wurden ausgehend von ganz Deutschland auf Berlin heruntergebrochen.

Vor einem Jahr präsentierte Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) ein Maßnahmenpaket, mit dem Analphabeten geholfen werden soll. Angebote an Volkshochschulen wurden bis dahin nur von etwa einem Prozent der Betroffenen angenommen, das soll sich mit dem Programm ändern. Für die „Senatsstrategie für Alphabetisierung und Grundbildung“ stehen bis 2018 rund 11 Millionen Euro zur Verfügung.

Unter anderem entwickelte der Senat das „Alpha-Siegel“, als Gütekriterium für Einrichtungen zum Lesen und Schreiben lernen. Im November dieses Jahres wurde es erstmals an sieben Berliner Einrichtungen verliehen, darunter an das Jobcenter Spandau und die Arbeiterwohlfahrt. In der Hauptstadt bietet „ABCami“ insgesamt sechs Kurse an.

Darunter auch in der Yeni Moschee, einer klassischen Hinterhof-Moschee in Spandau. Anders als in Tiergarten sitzen im Unterrichtszimmer des Gotteshauses keine Flüchtlinge, sondern türkischstämmige Frauen. Im Schnitt sind sie bereits seit 15 bis 25 Jahren in Berlin. Deutsch können trotzdem die wenigsten – vor allem weil sie Analphabeten sind.

Der kostenlose und kontrastive Kurs – Lehrer und Schüler dürfen im Zweifel auch immer Türkisch sprechen – ist für viele der Frauen die letzte Hoffnung.

"Ich möchte alleine zum Arzt gehen können"

„Ich möchte allein zum Arzt gehen können – zu einem deutschen Arzt“, sagt eine Teilnehmerin des Kurses. Wie die meisten im Kurs kommt sie aus einer ländlichen Gegend der Türkei und hat nur wenige Jahre in der Schule verbracht. Dass sie Deutsch weder lesen noch schreiben kann, schränkt sie im Alltag stark ein.

„Wenn ich Freunde in Kreuzberg besuchen möchte, muss ich mich intensiv auf die Busfahrt vorbereiten.“ Besonders schlimm sei es aber, wenn sie angesprochen werde und nicht antworten könne. Dadurch traue sie sich oft nicht mehr aus dem Haus.

„Wir wollen die Frauen bestärken. Hier dürfen sie auch Fehler machen“, sagt Tugba Bektas, eine weitere Regionalkoordinatorin von „ABCami“. Man sei kein Ersatz für die Angebote der Volkshochschulen, sondern eher eine Brücke und eine Art Vorkurs, da die Frauen dem Stoff sonst nicht folgen könnten. „Wir machen eigentlich Grundbildungskurse.“

Tatsächlich lernen die Frauen in der Yeni Mosche nicht nur die Sprache, sondern auch Alltagshandlungen. An diesem Morgen steht die Funktion und Bedienung einer EC-Karte auf dem Lehrplan. Geduldig erklärt die Lehrerin – eine Germanistikstudentin im fünften Semester – den Unterschied zwischen Ein- und Auszahlung und wie sich die Iban zusammensetzt. Dass das nötig ist, zeigt die Nachfrage. Nur knapp die Hälfte der erwachsenen Frauen haben in ihrem Leben bereits eine Bank besucht. Die Scham, das zu ändern, hat ihnen der Kurs genommen. „Man muss sich nicht schämen, dass man etwas nicht weiß, nur dafür, dass man es nicht lernt“, sagt die Lehrerin.

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