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Berlin: Als Katja Brotmarken für die Deutschen klaute

Annäherung an das Tabuthema Zwangsarbeit: Ein Heimatmuseum auf der schwierigen Suche nach Zeitzeugen

Von Amory Burchard

Ursula Venzke erinnert sich an Jan Waterreus, wie ihn ihr Bruder mit nach Hause brachte. „Er kam im Sommer 1942 so leicht angezogen an. Als ob er nur sechs Wochen bleiben sollte.“ In der Herz-Jesu-Kirche in Charlottenburg hatten sich die jungen Männer kennengelernt. Der 19-jährige Jan aus Den Haag war zur Arbeit zwangsverpflichtet worden und lebte in der zum Lager umfunktionierten Volksschule in der Oranienstraße (heute Nithackstraße). Aus dem sommerlichen Einsatz in der Reichshauptstadt wurden fast drei Jahre. Jan war Bühnenarbeiter im Schillertheater. Er kam weiter in Hemd und leichter Hose zu Besuch – bis ihm Ursulas Mutter Kleidung gab. Bald sagte auch Jan „Mutti“ zu ihr.

Das Heimatmuseum Charlottenburg-Wilmersdorf zeigt eine Ausstellung über Zwangsarbeit. Die historischen Fotos, alten Postkarten und Schnappschüsse, die Anweisungen von Behörden und persönlichen Aufzeichnungen sind für viele ältere Menschen in Charlottenburg und Wilmersdorf ein Teil ihrer Familiengeschichte. In unzähligen Privathaushalten, in Fabriken und Handwerksbetrieben arbeiteten Frauen und Männer aus den besetzten Ländern, sagt Museumsleiterin Birgit Jochens. „Eigentlich musste man ihnen an jeder Ecke begegnen.“ Trotzdem: Ursula Venzke ist eine der wenigen deutschen Zeitzeuginnen, die über ihre Begegnungen mit Zwangsarbeitern sprechen wollte. Für viele seien diese Erinnerungen bis heute tabu, sagt Birgit Jochens.

Ein Beispiel: In der Ausstellung wird ein Foto von einem dieser Charlottenburger Festsäle gezeigt, wo Vereine und Familien in „geschlossener Gesellschaft“ feierten. Während des Krieges waren dort Ostarbeiterinnen untergebracht. Der Enkel des Gastwirts erinnert sich an die Frauen, vor denen er sich als kleiner Junge fürchtete. Wenn er über den Hof ging, hätten sie ihn beschimpft und bespuckt. Sprechen möchte er nicht über diese Zeit. Er fürchtet, womöglich „zur Verantwortung gezogen“ zu werden.

Ein Wilmersdorfer dagegen spricht mit großer Zuneigung von einer Ukrainerin, die 1942 sein Kindermädchen wurde. „Es klingelte an der Tür, ich machte auf, und da stand eine junge Frau mit schwarzen Haaren, mit Kopftuch, mit roten Backen, mit einer dicken Wattejacke, einen Beutel über der Schulter“, erinnert sich der heute 65-Jährige. Anfangs musste Katja allein in der Küche essen, wie es offiziell vorgeschrieben war. Aber bald habe sie im Esszimmer mit der Familie am Tisch gesessen. Sie besuchte den Gottesdienst in der Russisch-orthodoxen Kirche und ging gelegentlich ins Kino. Seine Mutter habe sich mit dem Mädchen angefreundet, einmal löste sie sogar von Katja geklaute Brotmarken ein und teilte die Beute mit ihr. Der kleine Junge von damals hat sich vorgenommen, Katja in der Ukraine zu suchen. „Wir haben nur gute Erinnerungen, und wir können nur hoffen, dass auch Katja gute Erinnerungen an uns hat“, schreibt er in einem Text für die Ausstellung.

Auch für Ursula Venzke gehört die Zeit mit Jan Waterreus zu ihren positivsten Kriegserinnerungen. Der junge Holländer wurde ein gern gesehener Gast in ihrer Familie. Nachdem ihr Vater 1943 gestorben war und der Bruder zur Wehrmacht musste, war es Jan, der Holz zum Heizen aus dem Garten in Lichtenrade holte. Zum Abschied im Mai 1945 brachte er zwei Säcke mit Trockengemüse aus der Lagerküche und bewahrte die Familie so vor dem schlimmsten Hunger. Ursula Venzke weiß, dass die Holländer zu den privilegierten Fremdarbeitern gehörten und es den Polen und Russen viel schlechter erging. Sie arbeitete bei der AOK, wo Zwangsarbeiter Krankengeld beantragen konnten. Ein älterer Pole habe sie und ihre Kolleginnen von der Krankenkasse geradezu angefleht, für ein paar Mark etwas für sie malen zu dürfen. Ursula gab ihm ein Foto ihres verstorbenen Vaters. Die Bleistiftzeichnung hängt noch heute in der Wohnung ihrer Schwester.

Museum Charlottenburg-Wilmersdorf, Schloßstraße 69; noch zu sehen am morgigen Sonntag, dem letzten Ausstellungstag, von 11-17 Uhr. Informationen über weitere Ausstellungen im Internet unter www.ausstellung-zwangsarbeit-berlin.de

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