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Da fehlt doch was, oder? Auch abseits der christlichen Weihnachtstradition feiern viele Berliner am 24., 25. und 26. Dezember – mit Familie und Freunden, mit gutem Essen und Musik.

© Fotolia/Montage: Tsp

Alternative Rituale an Weihnachten: Frohe Keinachten

Kein „O Tannenbaum“, keine Krippe, kaum Geschenke – aber zweieinhalb freie Tage. Welche Festrituale haben Berliner, die kein klassisches Weihnachten feiern? Sieben Keinachtsgeschichten.

Alkmini Boura, 33, Filmemacherin. „Weihnachten ist für mich: ein gutes Essen, meine Mutter, Freunde und Theater.“
Alkmini Boura, 33, Filmemacherin. „Weihnachten ist für mich: ein gutes Essen, meine Mutter, Freunde und Theater.“

© Mike Wolff

Mutter-Tochter-Tag
Alkmini Boura, 33, Filmemacherin.
„Weihnachten ist für mich: ein gutes Essen, meine Mutter, Freunde und Theater. Letztes Jahr gab es Birnenravioli und die ,Dreigroschenoper‘.“

Weihnachten war bei uns schon immer anders. Unsere Familie ist sehr klein, mein Onkel, meine Mutter und ich, dazu die Freunde, die bei uns Weihnachtsasyl bekommen. Weihnachtsboykotteure, Einsame oder Leute aus dem Ausland kommen am 24. Dezember zu uns. Wir essen, reden und haben Spaß. Was es noch nie gab, waren Weihnachtslieder oder Blockflötenklänge. Spießig, das Wort fällt mir dazu ein.

Meine Mutter ist Griechin, nicht orthodox, aber griechisch geprägt. Weihnachten hat in ihrer Welt keine Rolle gespielt. Mit mir und in Deutschland war es anders, auf einmal musste etwas passieren. Sie schmückte die Wohnung, manchmal gab es sogar einen Weihnachtsbaum. Ich erinnere mich noch an einen Nussknacker, der seinen Weg aus der DDR zu uns gefunden hatte, außerdem an Stollen von Freunden aus Dresden. Mein Gefühl zu diesen Tagen war immer unverkrampft, vielleicht nicht so festlich wie bei anderen, dafür entspannt und ohne Verpflichtungen.

Am schlimmsten war es, wenn wir mit anderen Familien die Weihnachtstage verbrachten. Ich erinnere mich an einen Urlaub in Dänemark. Plötzlich hieß es: Nun ist Bescherung. Wie in einem gut einstudierten Theaterstück holten alle Mamas und Papas die Geschenke heraus. Das große Verteilen und Aufreißen begann. Die Einzigen, die nichts dabeihatten, waren meine Mutter und ich. Wir hatten einfach nicht daran gedacht. Ich glaube mich noch an die mitleidigen Blicke der anderen Kinder zu erinnern. So etwas wie einen Wunschzettel kannte ich gar nicht. Auch konnte ich das Horten von Geschenken, das nicht enden wollende „Ich will das und das und dann noch das“ nicht leiden.

In solchen Situationen stand ich einfach zwischen den Stühlen. Auf dem einen saßen diejenigen, die Weihnachten traditionell in der Familie feierten, auf dem anderen saß meine Mutter, die sich bemühte, für mich etwas Schönes zu organisieren. Das am sehnlichsten gewünschte Geschenk, was ich dann doch einmal zu Weihnachten bekommen hatte, war eine echte Fliegerjacke aus Leder und mit Fell innen drin.

Als ich 16 Jahre alt wurde, hatte meine Mutter eine neue Idee. „Lass uns am 25. Dezember ins Theater gehen“, sagte sie. Seit 17 Jahren machen wir das nun. Ein Weihnachten im kulturellen Sinn, das passt zu uns. Diese besonderen Mutter-und-Tochter-Tage verlaufen immer ähnlich: Erst machen wir uns schön. Dann schauen wir, wenn wir das Stück nicht schon vorher ausgesucht haben, was die Bühnen Berlins zu bieten haben. Außerdem machen wir ein Foto von uns, das wir an alle unsere Freunde schicken. Wir haben uns also unsere eigenen Traditionen gebastelt.

Alles für die Kinder

Özhan Bayraktar, 36, leitet das Projekt „Berliner Weihnachtmänner“ des Studentenwerks und studiert Wirtschaftsingenieurwesen (Master).
Özhan Bayraktar, 36, leitet das Projekt „Berliner Weihnachtmänner“ des Studentenwerks und studiert Wirtschaftsingenieurwesen (Master).

© Thilo Rückeis

Özhan Bayraktar, 36, Leiter des Projekts „Berliner Weihnachtmänner“ des Studentenwerks.

„Wir haben Weihnachtsmänner, aber auch den Nikolaus, das Christkind und Väterchen Frost im Angebot.“

Weihnachten kann sehr anstrengend sein. Ich weiß das, ich bin ja der Weihnachtsmann. Na gut, ich bin nicht der Weihnachtsmann. Nur einer von denen, die am 24. durch die Stadt sausen. Aber immerhin. Für mich ist das kein Problem, ich bin ja Berliner muslimischen Glaubens. Für mich sind die Weihnachtstage einfach ein paar gemütliche Tage voller Entspannung, einfach mal abschalten und nichts tun – wenn ich nicht gerade mit dem Rauschebart unterwegs bin.

Obwohl ich mich noch sehr gut erinnere, wie in der Schule die anderen Kinder erzählt haben: „Du musst deine Schuhe putzen und vor die Tür stellen, dann steckt der Nikolaus etwas hinein.“ Das war eine wahnsinnige Neuigkeit. Nachdem ich zu Hause alles so gemacht hatte, bin ich stolz zu meinen Eltern gegangen und habe ihnen von diesem wundervollen Nikolaus erzählt – und dass meine Schuhe jetzt vor der Tür stehen. Morgens war tatsächlich etwas drin.

Am 24. muss jedes Detail stimmen. Weißer Bart, roter Umhang und Mütze, schwarze Schuhe und Hose, rot geschminkte Wangen, weiße Haare und Augenbrauen, Jutesack, eine Glocke und ein goldenes Buch. Ab 14 Uhr geht es los. Ich klopfe dreimal an die Haustür, erwartungsvolle Kinder lassen mich herein, manche haben Angst, andere sind ehrfürchtig oder einfach nur aufgeregt. Mit meiner tiefen und mächtigen Weihnachtsmannstimme sage ich mein Sprüchlein auf und lese aus dem goldenen Buch vor, was die Kinder im letzten Jahr Tolles geschafft und gemacht haben, worauf sie stolz sein können. Die Zeiten der Rute sind vorbei.

Es war in meinem zweiten Jahr. Da sollte ich zu einer Familie mit einem krebskranken Jungen. Ich hatte mit der Mutter lange am Telefon gesprochen, war akribisch vorbereitet und hatte trotzdem Angst: Würde ich es schaffen, hier ein guter Weihnachtsmann zu sein? In der Wohnung sah ich, dass auch die Schwester des Jungen kurze Haare hatte. Sie wollte so aussehen wie ihr Bruder, erklärte sie mir, weil der immer frage, warum seine Haare weg seien. Der Vater, der mit der Videokamera filmte, hatte Tränen in den Augen. Ich las also aus dem goldenen Buch vor, lobte den Jungen, wie tapfer er war und dass er durchhalten muss, um die bösen Männer in seinem Bauch zu besiegen. Dann wurde er mit Geschenken überhäuft. Als ich wieder draußen war, habe ich am ganzen Leib gezittert. In dieser Familie war Weihnachten schön, aber ich habe auch den Schmerz gesehen.

Wenn ich um 20 Uhr Feierabend habe, alle Geschenke verteilt und eine Menge Kinder glücklich sind, trotte ich nach Hause, und die Leute auf der Straße rufen: „Wo ist dein Rentier?“ Die kriegen auch noch ein paar Schokotaler in die Hand gedrückt. Ist ja schließlich Weihnachten.

Weihnukka-Stress

 Alina Schewtchenko, 34, Ethnologin, mit ihrer Tochter Sonia, 3: „Kein Christkind, kein Weihnachtsmann, die Geschenke kommen von uns und die Tanne ist aus dem Wald.“
Alina Schewtchenko, 34, Ethnologin, mit ihrer Tochter Sonia, 3: „Kein Christkind, kein Weihnachtsmann, die Geschenke kommen von uns und die Tanne ist aus dem Wald.“

© Mike Wolff

Alina Schewtchenko, 34, Ethnologin.

„Kein Christkind, kein Weihnachtsmann, die Geschenke kommen von uns und die Tanne ist aus dem Wald.“

Puh, Weihnachten ist ein schwieriges Thema. Ich bin Jüdin, stamme aus der Ukraine, mein Freund ist in Deutschland katholisch aufgewachsen. Vorher war uns das alles nicht so wichtig, doch seitdem wir Kinder haben, wollen wir die Feste und Traditionen unter einen Hut bekommen.

Los geht der Marathon mit Chanukka, dem jüdischen Lichterfest, das in diesem Jahr vom 17. bis zum 24. Dezember stattfindet. In der Ukraine waren jüdische Feste für meine Familie Events mit viel Essen. Hier in Deutschland entdeckte ich mein Judentum noch einmal neu. Mit meinem Freund habe ich ausgehandelt, dass wir Schabbat feiern und eben Chanukka. An einem der Chanukka-Tage laden wir Freunde ein, andere Kita-Eltern und viele Kinder. Ich zünde die Kerzen an. Danach spreche ich ein Gebet erst auf Hebräisch, dann auf Deutsch und schließlich erkläre ich die Bedeutung des Festes. Dann essen wir, eine wilde Mischung: Gans, Kartoffelpuffer mit Apfelmus, Hefeklöße.

Die nächste Station ist Weihnachten. Das ist ein sehr mächtiges Fest, es ist einfach überall und ich bin ein wenig unsicher, wie ich damit umgehen soll. Eine Geschichte: Vor ein paar Tagen war ich mit meiner Tochter in einem Laden, da gab es ein Puppenbett, das sie sehnsüchtig beäugte. Die Verkäuferin sagte: „Das kannst du dir ja auf deinen Wunschzettel für das Christkind schreiben.“ Meine Tochter sah sie verständnislos an. „Oder den Weihnachtsmann?“, schob die Verkäuferin nach. Danach kamen natürlich die Fragen: Wer sind der Weihnachtsmann und das Christkind? Ich mache der Verkäuferin keinen Vorwurf, aber ich wünsche mir mehr Sensibilität. Man könnte ja erst fragen, ob jemand überhaupt Weihnachten feiert.

Am 24. fahren wir zu den Eltern meines Freundes. Die freuen sich über die Enkelkinder und ich mich über die deutsche Gemütlichkeit. Ich gehe nicht mit in die Kirche, wir singen keine christlichen Lieder. Es gibt einen Tannenbaum, und die Geschenke kommen nicht vom Weihnachtsmann, sondern von uns. Das ist ein Kompromiss, so kann ich mit der Familie feiern, ohne von Weihnachten aufgesogen zu werden.

Schluss ist dann mit dem russischen Neujahrsfest, das ich aus der Ukraine mitgebracht habe, mein eigentliches Herzensfest. Weil in der Sowjetunion Religion und damit auch Weihnachten verboten war, rutschte Weihnachten vom 6. Januar auf das Neujahrsfest. Jetzt schmücken wir den Tannenbaum, verkleiden uns und feiern.

Mein Traum: alle Feste auf zwei bis drei Tage verdichten und etwas ganz Eigenes kreieren. Vielleicht, irgendwann.

"Fucking Christmas"

Pille, 50, vom Rock-und-Metal-Pub Blackland in Prenzlauer Berg. Links steht Mitbetreiber Freddy mit Pitbull Athena.
Pille, 50, vom Rock-und-Metal-Pub Blackland in Prenzlauer Berg. Links steht Mitbetreiber Freddy mit Pitbull Athena.

© Mike Wolff

Pille, 50, vom Rock-und-Metal-Pub Blackland in Prenzlauer Berg.

„Weihnachtslieder würde ich noch nicht einmal in einer Black-Metal-Version singen.“

Ick heiße Pille, eigentlich Michael, aber der Spitzname klebt an mir, seit ich als Kind „Raumschiff Enterprise“ toll fand. Ich bin in Prenzlauer Berg aufgewachsen. Hier, wo jetzt unser Rock-und- Metal-Pub ist, gab es früher eine Eisbude. Da habe ich als Kind für ein paar Pfennig Softeis bekommen. Vor ein paar Jahren hatte ich noch eine andere Metal-Kneipe im Kiez, die haben jetzt die Bayern und Schwaben übernommen.

Aber zum Thema. Ich sage es am besten gleich: Weihnachten ist für mich die reinste Heuchelei. Schon als Kind hat es mir nicht gefallen. Artig sein, sich bedanken, sich freuen, was schenken müssen. Auch meiner Tochter habe ich gleich gesagt, dass es Weihnachten bei mir nicht gibt. Man kann sich das ganze Jahr über lieb haben oder eben nicht, dazu brauche ich keinen speziellen Tag.

Aber es ist ja auch immer das Gleiche. Die Miezen finden uns Metaller wild, aufregend und verwegen, dann schnappen sie sich einen, schleppen ihn nach Hause und zack, hat er Weihnachten an der Backe. Dann geht er nicht mehr raus zum Konzert oder in die Kneipe, sondern sitzt unterm Baum. Das geht echt nicht. Metaller gehören da nicht hin. Das letzte Mal auf dem Weihnachtsmarkt war ich vor ein paar Jahren, für eine Mieze. Es gab nicht einmal einen ordentlichen Schießstand. Wann ich das letzte Mal was verschenkt habe, kann ich mich gar nicht erinnern, aber bestimmt war es ein Grog.

Deswegen haben wir Weihnachten auch offen. Gegenprogramm. Da kommen 30 bis 40 Gäste. Das ist nicht viel, aber Hauptsache, wir sind da. Das sind auch nicht die Einsamen und Verzweifelten. Sondern Leute, die nachmittags bei ihren Familien waren und noch gemütlich ein Bier trinken wollen. Zur Sache geht es am 25. Dezember. Da organisiere ich mein „Fucking Christmas“-Festival. Früher war das kein Problem: „Klar spielen wir“ – sofort hatte ich fünf bekannte Bands in der Bude. Doch auch die sind alle älter und familiärer geworden, jetzt müssen die Jüngeren ran, die können noch.

Nicht, dass ich jetzt für herzlos gehalten werde. Meine Mutter besuche ich am 24. Jetzt wird sie bald 80, da kann ich sie nicht alleine lassen. Aber ohne die Schenkerei. Ich fahre hin, wir essen was, gemütlich, und wenn ich nicht eingeschneit bin, geht es in den Pub.

Fast wie bei den Deutschen

Ümit Baba, 35, mit Frau Hayat, 35, Livan Noah, 7, und Liya Mirelle, 6. Ümit ist Jurist und arbeitet als Projektleiter im Türkisch-Deutschen Zentrum.
Ümit Baba, 35, mit Frau Hayat, 35, Livan Noah, 7, und Liya Mirelle, 6. Ümit ist Jurist und arbeitet als Projektleiter im Türkisch-Deutschen Zentrum.

© Mike Wolff

Ümit Baba, 35, Projektleiter im Türkisch-Deutschen Zentrum.

„Der Weihnachtsmann muss vorsichtiger sein. Auf einer Feier, bei der er überraschend auftauchte, will mein Sohn gesehen haben, dass er meine Hose anhatte.“

Nimm mit, was gut für dich ist“, hat mein Vater immer zu mir gesagt – und schickte mich für vier Jahre in den evangelischen Religionsunterricht. Ich sollte lernen, andere Religionen zu respektieren. Meine Eltern meinten es sehr ernst, so ernst, dass sie sogar Weihnachten mit uns gefeiert haben. Nicht wie in den deutschen Familien, aber immerhin. Wir kamen zusammen, haben gegessen und Jesus-Filme angesehen. Denn auch bei uns Aleviten gilt Jesus als wichtiger Prophet. Aber in der Schule der Einzige zu sein, der nach den Weihnachtsferien nicht über seine Geschenke reden konnte, war einer der Momente, in denen ich mich als Außenseiter gefühlt habe.

Unsere Kinder sollen es anders haben. Darüber waren meine Frau und ich uns einig, noch bevor wir geheiratet haben. Sie sollen alles mitmachen, damit sie nicht außen vor sind. So sollen sie später auf ein großes Weltbild zurückgreifen und selbst entscheiden können, wie sie leben wollen. Für uns bedeutet dieser Vorsatz eine Menge Arbeit, denn zu Weihnachten kommt nicht nur der Weihnachtsmann , sondern auch dieVerwandtschaft. Selbst die Familienältesten haben das neue Fest akzeptiert.

Was ich daran schön finde: die Familie, das Fest, die Geschenke. Doch am wichtigsten sind uns die Werte: Nächstenliebe zum Beispiel. Mein Sohn sagt, dass er den Weihnachtsmann mag, weil der auch zu armen Kindern kommt. Uns geht das Schicksal der syrischen Flüchtlinge aus Kobane sehr nahe. Mein Sohn findet es richtig, dass ich in die Türkei gefahren bin, um Hilfsgüter abzuliefern. Das würde der Weihnachtsmann auch machen. Auch die Geschenke sind Herzensgaben. Wir hören genau hin, was sich unsere Kinder wünschen. Auch die Verwandten sollen jeder ein eigens ausgesuchtes Geschenk bekommen.

Los geht die Weihnachtszeit mit dem Geburtstag meiner Tochter Mitte Dezember. Bis dahin haben wir einen Weihnachtsbaum, den sie alleine schmücken darf. Abends lesen wir Weihnachtsgeschichten und singen Lieder. Am 24. mache ich Frühstück, dann wirft mich meine Frau aus der Küche. Abends besucht uns die Familie, wir singen türkische Lieder, essen Gans und anatolische Spezialitäten. Später liegen plötzlich die Geschenke unter dem Baum. Am liebsten habe ich den 25., da ist es ruhiger.

Unser Weihnachten ist zusammengesetzt aus deutschen Traditionen und aus türkischer Kultur. Das Christkind lassen wir aber raus – dafür ist der Weihnachtsmann zu einer überreligiösen Figur geworden.

Nur nicht allein sein

Ryme Mechiche-Alami, 27, ist Juristin und arbeitet in einer Beratungsfirma.
Ryme Mechiche-Alami, 27, ist Juristin und arbeitet in einer Beratungsfirma.

© Thilo Rückeis

Ryme Mechiche-Alami, 27, Juristin.

„Weihnachten ist inzwischen auch in Marokko angekommen, nur sehen die Weihnachtsmänner nicht so schön aus wie hier.

Traurig, richtig traurig, war mein erstes Weihnachten in Deutschland. Das war vor drei Jahren, ich war gerade für meinen Master in Jura nach Berlin gekommen. Zur Begrüßung hat es geschneit. Das kannte ich nicht, ich hatte noch nicht einmal warme Sachen dabei. Trotzdem sah es wunderschön aus, wie in einem der Hollywood-Filme, die in dieser Zeit bei uns in Marokko im Fernsehen laufen.

Weihnachten ist natürlich ein Begriff in Marokko. Die ausländischen Firmen haben Tannenbäume aufgestellt. Die marokkanischen Eltern haben die schwierigste Aufgabe: Sie müssen den Kindern erklären, warum der Weihnachtsmann nicht auch zu ihnen kommt. Meine Mutter sagte, dass es eben nicht unser Fest sei. Freunde erzählten, der Weihnachtsmann stamme aus dem Norden und bekomme kein Visum für Marokko.

Aber zurück nach Berlin, ins Jahr 2011. Weihnachten rückte näher und ich merkte, dass um mich herum etwas Besonderes passierte, eine einzigartige Stimmung herrschte, eine Fröhlichkeit. Ich hoffte, dass mich jemand zu sich nach Hause einlädt. Ich wollte wissen, wie Weihnachten in einer richtigen deutschen Familie gefeiert wird, was die Traditionen sind, wie es riecht, wie die Menschen miteinander umgehen. Bei uns ist es üblich, Gaststudenten zu den Festen einzuladen. Ein Besteck mehr macht doch nichts aus. Doch hier ist es anders. Die Familien bleiben für sich.

Der 24. Dezember war der allererste Tag, an dem ich mich so richtig alleine gefühlt habe. Auf den Straßen war es menschenleer, wie ausgestorben, die Läden waren geschlossen. Ich habe versucht, es mir zu Hause gemütlich zu machen, habe gelesen und Tee getrunken. Aber es war so still, und drei Tage Tee trinken macht auch keine Freude. In diesem Moment habe ich gespürt, dass ich eine Fremde in Deutschland bin.

An meinem zweiten Weihnachten habe ich mich mit all den anderen ausländischen Studierenden verabredet, die auch niemanden hatten. Wir haben geredet, Filme geschaut, gegessen, Tee getrunken. Vielleicht ist die Weihnachtszeit hier auch so heilig, weil man sich in deutschen Familien nicht so viel besucht, selbst wenn die Kinder oder Geschwister in derselben Stadt wohnen. Bei uns ist das anders, ich schreibe mir über Whatsapp täglich mit meiner Familie.

Letztes Jahr konnte ich meinen Bruder herlocken, wir haben es uns zusammen gemütlich gemacht. Es ist verrückt: Weihnachten ist nicht mein Fest, dennoch muss ich mir etwas organisieren, um mich nicht alleine zu fühlen. Und dieses Jahr? Wieder mit Freunden. Oder es passiert noch eine Überraschung ...

Es gibt ja Jazz

Ernst Bier, 63, Musiker, spielt seit 15 Jahren auf der A-Trane-Weihnachtsshow; täglich vom 21.–30. Dezember.
Ernst Bier, 63, Musiker, spielt seit 15 Jahren auf der A-Trane-Weihnachtsshow; täglich vom 21.–30. Dezember.

© Doris Spiekermann-Klaas

Ernst Bier, 63, Musiker.

„Weihnachten ist für mich ein Tag wie jeder andere, nur dass ich mit meiner Musik den Leuten vielleicht etwas mehr Freude bereiten kann als sonst.“

Ohne Zweifel, für Kinder ist Weihnachten etwas Wunderbares. Bei mir waren es die Gerüche aus der Küche, die Tanne mit den echten Kerzen, der Adventskranz, die Lieder, das Essen, die Geschenke. Endlich hatte mein Vater mehrere Tage am Stück Zeit für uns. Nur meine Eltern, meine Brüder und ich. Doch seien wir ehrlich, irgendwann kommt die Ernüchterung. Und die Frage, was Weihnachten für uns Erwachsene eigentlich bedeutet: eine ewige Rückbesinnung auf die eigene Kindheit?

Ich bin über 60 Jahre alt, Jazz-Musiker, für mich ist es das Größte auf der Welt, mit anderen Musikern zusammen zu spielen. Ich habe keine Kinder, keine Ehefrau und gehe dennoch mit Freude durchs Leben. Vielleicht liegt es an meiner wilden Hippie-Zeit. Lange Haare, freie Liebe – auch wenn meine jugendliche Affäre mit der Frisörin meiner Mutter nicht zum Familienfrieden beitrug und ich auf ein Internat verbannt wurde. Warum soll ich Weihnachten feiern? Wenn mich einer meiner Brüder einladen würde, ich würde es höchstens bis 23 Uhr aushalten, dann müsste ich raus, dahin, wo es Musik gibt. Aber ich würde bei denen in der Nähe nichts finden, alles zu, alles tot.

Warum sollen die Singles und Nichtfeiernden frustriert zu Hause hocken? Mit diesem Gedanken bin ich vor 15 Jahren ins A-Trane gegangen, den Jazz-Club in der Pestalozzistraße in Charlottenburg, und habe gefragt, warum wir über die Feiertage nicht Konzerte geben.

Mein Weihnachten: mittags ins Fitnessstudio, schwimmen und saunen, nachmittags übe ich am Schlagzeug, mache mich locker. Abends fahre ich ins A-Trane, stimme mich ein und dann, wenn alle anderen ihren Braten gegessen und ihre Geschenke aufgerissen haben, beginnt es. Die Lichter gehen an, ich stehe auf der Bühne, neben mir die Kollegen, vor mir das Publikum. Jeder Platz ist besetzt, Sardinenbüchse, man kommt einander zwangsläufig nah. Die Leute nippen an ihren Gläsern, flüstern, dann gehe ich zum Mikro, es wird leise, man könnte eine Stecknadel fallen hören. Und ich sage: „Einen schönen Abend! Draußen weihnachtet es – und hier drin gibt es Jazz.“

Dieser Text ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

Raus aus der Guten Stube!

Drei Tage Gegenprogramm

Erst mal: Immer mit der Ruhe! Heiligabend sollte entspannt beginnen. Bis 17 Uhr hat das Liquidrom am 24. Dezember geöffnet (Möckernstr. 10). Während die anderen letzten Geschenken hinterherhetzen, genießen Sie Sphärenklänge in Salzlake (Vier Stunden 24,50 €).

Etwas fordernder, immer noch entspannt: Yogafreunde treffen sich um 11 Uhr im Kreuzberger Studio von „yogafürdich“ (Körtestr. 10) zum „Magic Merry Xmas Yoga“. 15 € kosten die 90 Minuten, Anmeldung nicht nötig.

Garantiert unbesinnlich: Wladimir Kaminers „Russendisko“ ab 23 Uhr im Roten Salon der Volksbühne. Davor um 21 Uhr die Lesung: „Weihnachten auf Russisch“. Ticket für beides 18, erm. 14 €.

Im BKA-Theater am Mehringdamm spielt die Gothic-Band Schneewittchen ein makaberes Konzert: „Schwarze Weihnacht“. Beginn: 22 Uhr, Karten 23,50, erm. 19,50 €. Der Abend im B-MIA (Dircksenstr. 123) heißt programmatisch „Festflucht und Bassbescherung“. House, Electro und Techno laufen auch im Ritter Butzke (Ritterstr. 26).

Bilderreise gefällig? Heiligabend sind Previews von genialen Filmen zu sehen. Um 20.30 Uhr läuft in den Hackeschen Höfen „Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach“. Der schwedische Film handelt von zwei herrlich antriebslosen Scherzartikel-Vertretern. Der Liebesfilm „Patong Girl“ läuft um 21 Uhr im Bundesplatz- Kino, ab erstem Weihnachtstag, um den es von hier an geht, auch anderswo.

Blauer Engel statt Christkind: „Marlene“! Das Renaissance-Theater (Knesebeckstr. 100) zeigt um 20 Uhr eine Hommage an die Dietrich.

Runter vom Sofa: An Weihnachten finden zahlreiche Tango-Kurse statt. Etwa ab 19 Uhr ein Anfängerkurs im Bühnenreif (Immanuelkirchstr. 6). Mehr auf tangokalender-berlin.de.

Aktiv abreagieren – das geht 365 Tage im Jahr ganz hervorragend im Boxtempel Berlin (Lehderstr. 42). Anmeldung zum Probetraining unter 0172 - 60 69 423.

Wer Körperkontakt scheut, kann zur Laserpistole greifen – auch an den Feiertagen (Lasertec, An der Industriebahn 2, Weißensee). Anmeldung unter: 0176 - 31 45 75 45 (20 € pro Person und Stunde).

Oder einfach Lachen: Am zweiten Weihnachtstag spielen „Die Gorillas“ um 20 Uhr ihre wahnwitzig witzige Impro-Theatershow „Der Rückblick – dein 2014“ im Heimathafen Neukölln (18, erm. 14 €). Und in der Scheinbar

präsentieren Horst Blue und Cloozy das Kabarettprogramm „Gerangel unterm Baum“ (Monumentenstr. 9; 11, erm. 8 €).

Schreinachten! Mehrere Metalbands spielen am 26. Dezember, darunter Amorphis (Huxleys Neue Welt, Hasenheide 107) und Grave Digger (C-Club, Columbiadamm 9 –11).

Dieser Text ist gedruckt in der Tagesspiegel-Samstagsbeilage Mehr Berlin erschienen.

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