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Auf Hilfe angewiesen. Schon heute brauchen 34.000 Berliner staatliche Unterstützung, da ihre Rente nicht ausreichend ist.

© dapd

Arme, alte Hauptstadt: Altersarmut rückt auf die Agenda

Bis 2030 wird sich die Zahl der über 90 Jahre alten Hauptstädter verdoppeln. Die Bedürftigsten leben vor allem in Wedding, Neukölln und Kreuzberg. Konsequenzen aus dem Bericht zur sozialen Lage von Senioren werden jetzt diskutiert. Was hilft aus dem Dilemma: höhere Löhne oder eine Garantierente?

Warteschlangen von Rentnern vor den Bezirksämtern in Kiezen voller verarmter, gealterter Bewohner. Unsinn? Ein solches Szenario scheint nicht ausgeschlossen. Berlin befasst sich jedenfalls künftig stärker mit dem Thema Altersarmut. Am heutigen Montag diskutieren im Gesundheitsausschuss des Abgeordnetenhauses zunächst die Sozialexperten den „Bericht zur sozialen Lage älterer Menschen“, den 2011 noch der rot-rote Senat erstellen ließ. Fest steht, dass sich die Zahl der Alten in der Stadt erhöhen wird. Laut Statistik werden 2030 mehr als 59.000 Berliner 90 Jahre oder älter sein – doppelt so viele wie heute.

Besonders problematisch ist, dass die ärmeren Rentner konzentriert in bestimmten Kiezen leben werden. Im Visier der Senatsverwaltung für Soziales sind die Ortsteile Kreuzberg, Wedding und Neukölln, wo schon jetzt viele Bewohner Hartz IV und Niedriglöhne beziehen. Künftig werden dort besonders viele Rentner leben, deren Pensionen bei nur 600 bis 800 Euro im Monat liegen und die Zuschüsse von den Ämtern beziehen. Auf knapp 30 Prozent der Rentner rund um die Körnerstraße in Tiergarten trifft das heute schon zu. Rund um den Kreuzberger Oranienplatz sind 25 Prozent der Anwohner ab 65 Jahren betroffen, im Rollbergkiez in Neukölln 20 Prozent. Mehr als 34.000 Berliner bekommen Grundsicherung, weil ihre Rente zum Leben nicht ausreicht. Das sind 5,2 Prozent der Einwohner über 65 Jahre, doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt.

Die darin enthaltenen Zahlen sind zwar nicht alle neu, wurden aber wegen der Abgeordnetenhauswahl letztes Jahr nicht diskutiert. Der noch unter Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linke) erstellte Bericht schließt mit der Folgerung, dass die Einführung eines flächendeckenden Mindestlohnes erforderlich wäre, um Altersarmut einzudämmen. Außerdem sollten die Gewerkschaften mehr Arbeitnehmer organisieren und so die „Reichweite von Tarifverträgen“ erhöhen.

In der Verwaltung von Sozialsenator Mario Czaja (CDU) hält man sich mit Vorschlägen zurück – etwa mit Verweis auf die Tarifautonomie, wonach sich der Staat nicht in Lohnverhandlungen einmischen sollte. Allerdings wolle man reguläre Jobs erhalten. „Vordringlich scheint uns zurzeit vor allem eine Regelung zu sein, die den Abbau von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen zugunsten von Minijobs erschwert“, sagte eine Sprecherin des Sozialsenators. Wie berichtet bezieht in Berlin jeder vierte Arbeitnehmer einen Niedriglohn von weniger als zehn Euro brutto die Stunde. Hinzu kommt eine Arbeitslosenquote von zwölf Prozent. Dadurch werden geringere Beiträge gezahlt und weniger Rentenansprüche gesammelt. Die im Bericht des Senats erwähnten Gewerkschaften fordern neben höheren Löhnen auch steuerfinanzierte Aufstockungen niedriger Renten.

Ein „dramatischer Anstieg von Altersarmut“ stehe bevor, sagte Gesundheitsexperte Heiko Thomas (Grüne). Helfen könnte ein flächendeckender Mindestlohn, gegen den sich auch viele Christdemokraten nicht sträuben. Allerdings ist Thomas zufolge bislang wenig passiert, der Senat mache über den Bundesrat keinen Druck. Zusätzlich zu stabilen Einkommen plädiert Thomas für eine Garantierente. Damit ein solches Mindestentgelt ausgezahlt werden kann, müssten mehr Menschen als bislang in eine entsprechende Kasse einzahlen.

Auch Wolfgang Albers (Linke) fordert, dass sich Arbeitgeber nicht weiter aus der Mitfinanzierung der Rentenversicherung verabschieden; außerdem sollen auch Beamte und Selbstständige einzahlen. In der Senatskoalition sieht er in Sachen höhere Löhne keine Bewegung. Für die SPD werde das zu einer „Frage ihrer Glaubwürdigkeit“.

VERGLEICH

In den drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen leben derzeit im Vergleich mit den Flächenstaaten besonders viele alte Menschen, deren Rente nicht ausreichend ist und die darüber hinaus Grundsicherung im Alter beziehen. Die höchste Quote der Grundsicherungsempfänger hat Hamburg, gefolgt von Bremen und Berlin.

ÜBERGANG

Laut dem Bericht wechseln bereits heute immer weniger Menschen direkt vom Beruf in die Rente. Schwierige Übergangsphasen am Ende des Erwerbslebens – geprägt von Arbeitslosigkeit oder atypischer Beschäftigung – seien keine Seltenheit mehr. Vor allem Angelernte, gering Qualifizierte und überwiegend prekär Beschäftigte haben den Angaben zufolge deutlich geringere Chancen als gut Verdienende, bis zur Rente zu arbeiten. Fast ein Viertel aller 55- bis 64-Jährigen geht aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand und muss deswegen Rentenkürzungen hinnehmen. Betroffen sind vor allem Arbeitnehmer, die über Jahre hinweg körperlich schwer arbeiten oder in Wechselschichten tätig sind. Wer drei Jahre früher aufhört zu arbeiten, erhält dauerhaft rund zehn Prozent weniger Rente. Das durchschnittliche Renteneintrittsalter liegt bei 63 Jahren.

MIGRANTEN

Am höchsten ist das Armutsrisiko für alte Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie müssen wesentlich öfter Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen. Mehr als ein Sechstel der in Berlin lebenden Ausländer im Rentenalter ist auf zusätzliche staatliche Unterstützung angewiesen, wobei Frauen noch wesentlich stärker betroffen sind als Männer. Bei den deutschen Rentnern ist es bisher jeder zwanzigste, der Grundsicherung erhält. Allerdings sind die nicht deutschen Rentner, trotz ihrer Abhängigkeit von staatlichen Leistungen, besser in ihre Familien eingebunden: Fast alle leben im eigenen Haushalt, die überwiegende Zahl auch innerhalb eines Familienverbundes. Bei den deutschen Rentnern ist die Zahl sowohl derjenigen, die im Heim leben, als auch der, die alleinstehend sind, um ein Vielfaches größer.

EINKOMMEN

Lediglich zwei Prozent der über 65-Jährigen in Berlin geben an, dass ihr Haupteinkommen über eine Erwerbstätigkeit erzielt wird. 95 Prozent erhalten eine Altersrente,die aber bei 34 000 Berliner Rentner so gering ist, dass sie durch die Grundsicherung im Alter aufgestockt wird . Das durchschnittliche monatliche Pro-Kopf-Einkommen der Rentner liegt in Berlin in der Altersgruppe der 65- bis 70-Jährigen bei 1100 Euro, der 70- bis 75-Jährigen bei 1125 Euro und der über 75-Jährigen bei 1275 Euro.

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