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Berlin: Am Sonntag sind sie alle Deutsche

Schon 15 Minuten vor dem Abpfiff hält es im überfüllten Fanclub von Türkyemspor die meisten nicht mehr auf ihren Stühlen. Rot-weiß geschminkte Kinder starten mit ihren Flaggen zum Kottbusser Tor.

Schon 15 Minuten vor dem Abpfiff hält es im überfüllten Fanclub von Türkyemspor die meisten nicht mehr auf ihren Stühlen. Rot-weiß geschminkte Kinder starten mit ihren Flaggen zum Kottbusser Tor. Sie warten nur auf eins: endlich wieder zu jubeln. Dann der Schlusspfiff. Sofort steigen Raketen in den Himmel über Kreuzberg, Böller krachen. Silvester-Stimmung Ende Juni. Hupende Autos kreisen rund um den Kotti. „Wir können stolz sein auf den dritten Platz nach 48 Jahren“, freut sich Wede Hurinaz. Jetzt wird gefeiert bis in die Nacht, sagt sie. Und wenn die Deutschen morgen im Finale gegen Brasilien siegen, dann soll die Feier weitergehen.

Dabei war die Stimmung vor dem Spiel eher gedämpft. Die fünf türkischen Männer, die gegenüber vor dem „Türkiyemspor“-Fanclub ihren Zigarrettenqualm inhalieren, gestehen: „Ein bisschen ist die Luft raus heute.“ Für den Sonntag entwickeln sie ihre eigene Arithmetik: Wenn Deutschland höher gegen Brasilien verliert als die Türkei, „dann sind wir Vize-Weltmeister“, sagt Tamer Yigit. Ob sie den Deutschen die Daumen drücken? „Na, klar“, antworten alle fünf im Chor. „Wir sind doch fast Deutsche.“ Einer der Männer erzählt, dass er Fingerfarben gekauft hat, um sein Auto schwarz-rot-gold anzumalen.

Seref Bilgin steht vor seinem Tapeziertisch, auf dem Türkei-Trikots und rot-weiße „Türkiye“-Schals ausgebreitet sind, und ärgert sich. „Wenn die Türken im Finale wären, hätten sie mir die Trikots aus den Händen gerissen.“ Am Sonnabend war er noch kein einziges losgeworden. Seit vier Jahren hat Bilgin den deutschen Pass. „Klar will ich, dass Deutschland Weltmeister wird.“ Hätte das Finale aber Deutschland gegen die Türkei geheißen, „dann hätte ich doch zu den Türken gehalten“. Deutschlandflaggen und Trikots wird Bilgin, der hauptberuflich Tischler ist, aber vorm Finale nicht verkaufen. Es lohnt sich nicht, glaubt er. Den meisten Deutschen falle es nämlich immer noch schwer, eine schwarz-rot-goldene Flagge zu schwenken. Die Türken sind da unkomplizierter.

Tanja Buntrock

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