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An der Mauer: Fotograf an der Grenze zwischen Leben und Tod

Spinner, Ewiggestriger und Held ist er genannt worden. Er hat sich jeden Meter der deutsch-deutschen Grenze erwandert und fast 50.000 Bilder geschossen. Damit hat sich Jürgen Ritter auch Feinde gemacht, nicht nur im Osten.

Die deutsch-deutsche Grenze ist sein großes Thema - Jürgen Ritter wurde zu dem Fotografen der Mauer. Von ihrem Fall 1989 hat er in der Dunkelkammer erfahren. Kurz zuvor war sein Buch mit dem prophetisch anmutenden Titel „Nicht alle Grenzen bleiben“ erschienen.

„Der Titel war aber nicht von mir“, sagt Ritter schmunzelnd, „den hat der Verlag ausgewählt“. Der 61-Jährige lebt im niedersächsischen Örtchen Barum bei Uelzen. Die Grenze war früher nicht weit weg. Jürgen Ritter scheint auf den ersten Blick in das ruhige Dorf nicht recht zu passen. Er ist immer in Bewegung, gestikuliert heftig, spricht schnell. Themen und Geschichten sprudeln nur so aus ihm heraus, die Sprache bilderreich, mehr Kaleidoskop als Gemälde.

Seit sechs Jahren hat ihn die vergangene Grenze wieder im Griff. Ritter schaut nach, was aus der Linie wurde, die das Land einst teilte und heute über weite Strecken unsichtbar geworden ist. Für sein Fotoprojekt „Die Grenze - damals und heute“ reist er durch Deutschland und sucht dieselben Standorte auf, von denen er früher die Grenzanlagen festhielt. Eindrucksvolle Vorher-nachher-Bilder zeigen Wälder, wo damals kahler Todesstreifen verlief oder Fußballspieler auf einem Rasen, der Minenfeld war. Auf der Internetseite www.grenzbilder.de zeigt Ritter sein Werk.

Sein Thema findet der Fernmeldetechniker 1981. Im März 1982 zieht er los, ausgerüstet mit Landkarten und Funkgerät, „immer auf der Suche nach dem schönen Bild, das im Halse stecken bleibt“. Von Schnackenburg an der Elbe folgt Ritter der Grenze Richtung Süden, etappenweise an Wochenenden oder im Urlaub, 1400 Kilometer Natur-Idyll und Todesstreifen. Nach zwei Jahren hat er es geschafft.

Was hat ihn dazu getrieben? Ritter antwortet mit einem Zitat von Rudolf Breitscheid, Sozialdemokrat, gestorben 1944 im Konzentrationslager Buchenwald: „Die Geschichte wird einmal ein vernichtendes Urteil nicht nur über diejenigen fällen, die Unrecht getan haben, sondern auch über die, die dem Unrecht stillschweigend zusahen.“ Und später, nach dem Mauerfall? „Wut - damals wie heute - wie man mit dieser Geschichte umgeht“, erklärt Ritter. Viele Jugendliche wüssten nichts mehr von der DDR und Mauer.

„So hat es ausgesehen, das war die DDR. Kein Unrechtsstaat, sondern eine Diktatur“, will er zeigen. „Ich bin so stolz auf Leute, die Nein gesagt haben, auf Grenzsoldaten die absichtlich daneben geschossen haben. Auf die ersten Demonstranten in Plauen und Leipzig!“ Die Westdeutschen hätten keinerlei Grund gehabt, sich moralisch überlegen zu fühlen.

„30 000 Westdeutsche haben ohne Not für die DDR spioniert“, sagt Ritter. Auch in seinem Verein Grenzopfer, der zinslose Darlehen an DDR-Flüchtlinge vergab, war die Stasi vertreten.

Auch in seiner Partei stieß der Sozialdemokrat in den 80er Jahren auf wenig Verständnis, deutsch-deutsche Annäherung stand auf dem Programm. Für den Satz „Die Kommunisten unterdrücken die Freiheit radikal“, erntete Ritter damals von Parteigenossen gellende Pfiffe - er stammt aus dem Godesberger Programm der SPD.

Im Jahr 2007 wird der Grenzfotograf mit dem Bürgerpreis zur deutschen Einheit der Bundeszentrale für Politische Bildung ausgezeichnet - für seine in „ihrer Breite und Intensität einmalige Dokumentation der deutschen Teilung und Einheit“.

Immer wieder hat es ihn in die Eiswüsten der Arktis und Antarktis gezogen, eine „Flucht an andere Grenzen“, wie er sagt. Die Bilder des Reisefotografen zeigen lebensgefährliche Schönheit eisig-einsamer Landschaft. Hätte es die Grenze nicht gegeben - was wäre das große Thema Jürgen Ritters geworden? „Leben und Tod“, antwortet er ohne zu Zögern, „Leben und Tod - und die Grenze dazwischen“. Von Peer Körner, dpa

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