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Sybill Klotz und Lioba Zürn-Kasztantowicz

© Rückeis

20 Jahre Einheit: Politische Herausforderungen kennen kein Ost und West

Eine Grüne aus dem Osten zieht in ein Westberliner Rathaus ein. Eine Genossin aus dem Westen geht in einen Ostbezirk. Kollegen waren skeptisch - die beiden Sozialstadträtinnen überzeugt.

Die Entscheidung war nicht alltäglich. Selbst nach 16 Jahren nicht, in denen Berlin vereint war. „Was, das traust du dich?“, wurde Sibyll Klotz 2006 öfter von Freunden gefragt. Sie hatte sich entschlossen, Stadträtin in Tempelhof-Schöneberg zu werden. Die gebürtige Ost-Berlinerin, wollte ein Ressort in einem Westbezirk übernehmen. Dabei war die 49-jährige Politikerin, promovierte Philosophin, keine Polit-Newcomerin. Direkt nach der Wende hatte sie sich von Weißensee aus erfolgreich in die Gesamtberliner Politik aufgemacht. Und mittlerweile lebt Sibyll Klotz seit vielen Jahren in Kreuzberg. „Diese Frage haben Sie bestimmt nicht gehört“, sagt sie zu ihrer Pankower Kollegin, Lioba Zürn-Kasztantowicz, die aus Stuttgart stammt und 1981 mit einem abgeschlossenen Pädagogikstudium nach West-Berlin kam. Die heute 57-Jährige ging den umgekehrten Weg und wurde 2005 Stadträtin in dem Ostbezirk.

Der SPD-Politikerin wurde diese Frage wirklich nie gestellt. Dass Leute aus dem Westen im Osten politische Ämter übernehmen, ist keine Seltenheit. In der SPD wurden lediglich einige Bedenken laut, als mit ihr und Matthias Köhn für den Bürgermeisterposten gleich zwei Wessis ins Bezirksamt einziehen sollten. „Es herrschte ein bisschen Überfremdungsangst“, sagt Zürn-Kasztantowicz.

Viel Unverständnis begegnete ihr aber bereits zehn Jahre früher, als sie mit Mann und drei Kindern Mitte der Neunziger privat den Schritt Richtung Osten wagte. Die Familie zog nach Blankenburg, einen dörflichen Stadtteil im Norden Weißensees. „Wir hatten drei kleine Kinder, wir wollten raus aus der Kreuzberger Enge“, sagt Zürn-Kasztantowicz mit kaum noch wahrnehmbarem schwäbischen Akzent. Verwandte und Freunde konnten es nicht fassen. Freiwillig in Berlins abgelegenen Osten? Prenzlauer Berg wäre ja noch gegangen, das war damals schon so hipp, dass es junge Westler dorthin zog. Doch seit der Bezirksfusion 2001 gehört Weißensee genauso wie Prenzlauer Berg zu Pankow.

Heute leiten beide Frauen das Ressort Soziales und Gesundheit. Lioba Zürn-Kasztantowicz ist zudem für den Bereich Bildung zuständig. Sie kennen sich von den regelmäßigen Stadtratssitzungen. Warum die Ostfrau im Westen arbeitet und umgekehrt, war für die beiden nie ein Thema. „Dass Sie aus dem Westen kommen, hatte ich nicht auf dem Schirm“, sagt Klotz. Ost oder West – bei der Arbeit spielt das für Klotz keine Rolle. „Mir gegenüber würde ja auch keiner seine Vorbehalte aussprechen.“ Bei den Mitarbeitern wisse sie oft nicht mehr, woher sie stammten. Das geht ihrer West-Kollegin ebenso. Wenn man die Bezirksinteressen vertritt, spielt die Herkunft keine Rolle – trotz unterschiedlicher politischer Biografien.

Klotz war nach der Wende politisch voll durchgestartet. Sie gehörte dem nach der Wende entstandenen Unabhängigen Frauenverband an, der bei der ersten Gesamtberliner Abgeordnetenhauswahl 1990 Plätze bei der Alternativen Liste (AL), dem Berliner Ableger der Grünen, belegen konnte. Kaltstart in der Chaostruppe: Zur Nominierungsversammlung der Kandidaten in der Kreuzberger Wrangelstraße erschien Sibyll Klotz überpünktlich – und war die Einzige. Dass man es damit bei der eher desorganisierten AL nicht so genau nahm, wusste sie nicht. Doch Sibyll Klotz überzeugte und zog ins Abgeordnetenhaus ein, das damals noch im Schöneberger Rathaus tagte. „Da musste ich unglaublich viel lernen.“ Das politische System, die Verwaltung, die Strukturen in Bezirk und Senat – alles wurde vom Westteil auf die gesamte Stadt übertragen. Bald war Klotz Expertin der Bündnisgrünen für Arbeitsmarktpolitik und übernahm 1993 erstmals den Fraktionsvorsitz.

Lioba Zürn-Kasztantowiczs politischer Weg verlief bedächtiger. Mitglied der SPD war sie seit 1972, jedoch nicht aktiv. Auf keinen Fall wollte sie in ihrer neuen Heimat eine der vielen unbeliebten Besser-Wessis sein. Der Familie wegen hatte sie sich von 1994 bis 2003 von ihrer Arbeit im Jugendamt Kreuzberg beurlauben lassen und in Weißensee in der Einzelfallbetreuung psychisch kranker Menschen gearbeitet. Zunächst engagierte sie sich in der Schule ihrer Kinder, wurde dort Elternvertreterin, „aber erst, als man mich gefragt hat“. Dann entdeckte die SPD sie plötzlich, sie kam in die Bezirksverordnetenversammlung, wurde stellvertretende Fraktionsvorsitzende, wechselte ins Bezirksamt.

In ihren Bezirken erleben die Stadträtinnen die verschiedenen Mentalitäten. Tempelhof etwa, das ist noch der alte Westen. Man bedauert die Schließung des Flughafens Tempelhof, ärgert sich, dass im Bahnhof Zoo kein ICE mehr hält. Klotz würde sich wünschen, dass auch andere Seiten des Bezirks mehr wahrgenommen werden. „Wer denkt denn bei Tempelhof beispielsweise an Kunst? Da fällt einem gerade mal die Ufa-Fabrik ein.“ Dabei lebten viele Künstler oder Schauspieler im Bezirk. Auf der anderen Seite: Kaum ein Stadtteil ist so sehr Sinnbild des neuen Berlin wie Prenzlauer Berg. Dort ist in den letzten 20 Jahren nichts geblieben, wie es war. Was einst als bunt, anders, kreativ galt, ist jetzt schick und teuer. „Von Osten kann man da nicht mehr sprechen“, sagt Zürn-Kasztantowicz. Sie beobachtet die Entwicklung mit Besorgnis. Steigende Mieten oder die Umwandlung in Wohneigentum machen die Gegend für immer mehr Menschen unbezahlbar. Viele angestammte Anwohner müssen wegziehen, werden verdrängt durch Wohlhabende. „Das ist ein ganz heißes Thema“, sagt Zürn-Kasztantowicz.

Ihre Ressortkollegin Klotz kann ihr da nur zustimmen; in Schöneberg beobachtet sie dieses Phänomen ebenfalls: in den Kiezen am Viktoria-Luise-Platz oder rund um die Motzstraße. „Wir schlagen uns mit den gleichen Schwierigkeiten herum.“ Beide sagen: Die Bezirksinteressen vertreten und trotzdem gesamtstädtisch denken – nur so könne man die Probleme der Stadt in den Griff bekommen. Berlins politische Herausforderungen kennen eben kein Ost und West.

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