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Analphabeten: Der Kampf mit den Buchstaben

Sven K. lernt erst mit Mitte 20 Lesen und Schreiben. In Deutschland gibt es vier Millionen Analphabeten.

Berlin - Svens Lieblingslektüre ist das „Berliner Fenster“ in der U-Bahn. „Wenn ich auf die Wiederholungsschleife warte, kann ich die Bildunterschrift meistens beim dritten Mal endgültig entziffern“, sagt Sven. In seiner Stimme schwingt hörbar Stolz mit. Die Welt des geschriebenen Worts war für den Analphabeten bis vor kurzem noch eine unerreichbare Rätselwelt. Sven ist damit einer von geschätzten vier Millionen in Deutschland, heißt es anlässlich des Welttages für Alphabetisierung. Vor einem Jahr konnte Sven K. nicht einmal seinen Namen zu Papier bringen, geschweige denn seine Stromrechnung lesen und erst recht keine Anträge beim Arbeitsamt ausfüllen. Geholfen hat ihm der Arbeitskreis Orientierungs- und Bildungshilfe (AOB). Heute kann der 24-Jährige mit viel Mühe immerhin einen einfachen Kurzartikel in der Zeitung lesen.

Damit ist Sven kein Einzelfall. Etliche Schüler ohne Abschluss verlassen jährlich Berlins Schulen. Rund ein Viertel von ihnen kann wie Sven nicht richtig lesen und schreiben, sind also praktisch Analphabeten. Die Gründe sind vielfältig. Lese- und schreibschwache Kinder kommen fast durchweg aus „bildungsfernen Familien in sozialer Randständigkeit“, sagt Ute Jaehn-Niesert, die als Psychotherapeutin das AOB leitet und ihren Schülern professionellen seelischen Beistand leistet. Die meisten hätten mehr als nur ein Päckchen in ihrem Leben zu tragen, so Jaehn-Niesert. Meist hätten Analphabeten in ihrer Kindheit von den Eltern zu wenig Zuwendung erhalten. Oder waren Opfer häuslicher Gewalt.

Beides traf auch bei Sven zu. Er wuchs in „Altes Lager“ auf, einem kleinen Ort bei Luckenwalde im südlichen Berliner Umland. Ein paar Häuserblocks weiter verrotteten die alten russischen Kasernen. Dass Sven in der Schule hinterherhinkte, sei seinen Eltern nicht weiter aufgefallen. „Meine Mutter hing den ganzen Tag auf der Couch rum und verdonnerte mich zur Arbeit im Haushalt“, erinnert sich Sven. Wenn er nicht spurte, sei die Mutter handgreiflich geworden. Einmal habe sie sogar mit „Hackenschuhen“ nach ihm geworfen, behauptet Sven und zieht ein düsteres Gesicht. Der Vater, Bahnbeamter, war immer bei der Arbeit und so gut wie nie zu Hause. Freunde hatte Sven keine. In der Schule war er ein Außenseiter. „Die meiste Zeit habe ich einfach aus dem Fenster geschaut und geträumt“, so Sven: „Oft bin ich aber auch erst gar nicht hingegangen, sondern eine Bushaltestelle vorher ausgestiegen.“ Sven floh vor den gehässigen Mitschülern, die ihn hänselten, wenn er sich wieder einmal nicht erfolgreich vor dem Vorlesen drücken konnte. „Das war jedes Mal eine schreckliche Blamage“, erinnert er sich. Die Buchstaben habe er zwar gelernt, jedoch nicht, wie man sie zu einem Wort zusammenzieht.

Die Briefe, die die Schule wegen des häufigen Schulschwänzens an seine Eltern schickte, habe er alle abgefangen. Als das rauskam, habe die Mutter getobt – und geprügelt. Dass Sven eine gravierende Lese- und Schreibschwäche hatte, blieb dennoch unbemerkt. Stattdessen wird dem damals Elfjährigen „mangelndes Sozialverhalten“ bescheinigt. Er landet in der Landesklinik in Brandenburg (Havel). „Das war der erste Lichtpunkt in meinem Leben“, so Sven. Denn dort sei überhaupt erst alles rausgekommen. Dass er sehr wohl sozial interagieren könne, wenn er denn wolle. Und dass das größte Problem seine Lese- und Schreibschwäche sei. Dennoch steht Sven keine rosige Zukunft bevor. Es folgen Jahre im Kinderheim, später haut er nach Berlin ab, bricht zwei Ausbildungen ab, hängt am Zoo ab, kifft, nimmt Ecstasy, wohnt in betreuten Wohnprojekten. Den Kontakt zu Eltern und Geschwistern hat er komplett abgebrochen. Stattdessen schafft er sich einen Hund an. Pünktlich zur Volljährigkeit zieht Sven samt „Raffnix“, so der Name seines Hundes, in die erste eigene Wohnung.

Doch die eigenen vier Wände bedeuteten auch einen eigenen Postkasten. Für Sven ein echtes Problem. Mahnungen zu unbezahlten Stromrechnungen flatterten ein. „Mit Post konnte ich nichts anfangen, also warf ich sie in den Papierkorb.“ Als ihm Freunde schließlich erklären, dass dies Zahlungsaufforderungen seien, stand er vor dem nächsten Problem: Überweisungsträger ausfüllen. „Das, was für andere völlig normal ist, war für mich absolut nicht drin.“ Eine gute Freundin gab ihm schließlich den endgültigen Schubs. Sven meldete sich beim AOB Berlin zum Lesen- und Schreibenlernen an.

Es sei ein schwerer Schritt gewesen, erzählt er. Schließlich sei es ja auch ein bisschen peinlich, sich als Analphabet zu outen. Doch damit findet er sich in bester Gesellschaft. „Überwindung kostet es alle“, so AOB-Leiterin Jaehn-Niesert. Viele seien Meister im Vertuschen ihrer Schwäche und kämen erst, wenn ihr eigenes Kind eingeschult wird – aus Angst, der Spross könne das Defizit dann aufdecken. Oftmals seien aber gerade die Kinder von Analphabeten gefährdet, ähnliche Lerndefizite auszubilden. Hier soll Abhilfe geschaffen werden. Im März 2010 wollen die Diplom-Psychologin und ihr Pädagogen-Team gemeinsam mit der TU Berlin eine bislang einmalige Aktion starten und unter dem Motto „Die Alpha-Familie“ Eltern-Kind-Kurse anbieten. Die Förderung habe das Bundesministerium für Wissenschaft und Bildung bereits bewilligt.

Für Sven öffnen sich dank seiner Fortschritte im Lesen und Schreiben bereits jetzt neue Perspektiven. „Ich kann mich auf eine ganz normale Ausbildungsstelle bewerben“, freut er sich. Eine Bewerbung bei der Deutschen Oper hat er schon losgeschickt. Dort jobbt er gelegentlich als Requisitenpacker und wurde von dem Unternehmen ermutigt, sich zu bewerben. Für Sven ginge damit ein großer Traum in Erfüllung: „Dann wäre mein Leben perfekt!“ Andrea Keil

Andrea Keil

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