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Berlin: Anatoli Lambrech (Geb. 1942)

Es waren so viele schon vor ihnen gegangen. Bereut haben es nur wenige

Als Anatoli zur Welt kam, waren die deutschen Truppen noch im Siegesrausch. Im Februar 1943, zu seinem ersten Geburtstag, verloren sie die Schlacht um Stalingrad – die Wende des Krieges.

Anatoli war in Russland zur Welt gekommen, seine Mutter hatte deutsche Vorfahren, es wurde deutsch gesprochen. Sein Vater, ein Ukrainer, kämpfte gegen die Deutschen an der Front. Mutter und Kinder gerieten unter deutsche Besatzung und wurden in Richtung Westen evakuiert. So landeten sie bei Frau Storch in Sukkow nahe Potsdam.

Nach Kriegsende wurden die ehemaligen Sowjetbürger, auch die deutschstämmigen, auf Befehl Stalins zurückbeordert. Nach den Exzessen der ersten Nachkriegstage ahnte man, was das bedeutete. Auch Frau Storch befürchtete das Schlimmste für ihre Mitbewohner, die ihr ans Herz gewachsen waren. Sie steckte ihnen ein Stoffetui mit Tafelsilber zu. Womöglich hat ihnen dieses Zahlungsmittel das Leben gerettet. Zuerst wurden sie nach Sibirien verfrachtet und vegetierten unter Bedingungen, die viele nicht überlebten. Dann konnten sie nach Kasachstan ziehen, wo die Bedingungen besser waren. Dort wuchs Anatoli auf.

Draußen sprach man russisch, zu Hause deutsch. Das Verhältnis der Russen zu den Deutschstämmigen war ambivalent: Einerseits wurden sie als „Faschisten“ beschimpft, als direkte Nachbarn und bei der Arbeit aber waren sie geschätzt. So war es nicht ungewöhnlich, dass Anatoli im Kolchos Brigadier werden konnte. Man lobte seinen Fleiß, seine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit. Anatoli war froh, einigermaßen selbstständig und draußen arbeiten zu können. Manch Frust über die sozialistische Planwirtschaft war leichter zu ertragen, wenn er über die Felder fuhr und die Jahreszeiten auf seiner Haut spürte.

Als die Sowjetunion zusammenbrach und seine drei Töchter sich in Richtung Deutschland aufmachten, entschlossen sich auch Anatoli und seine Frau die Koffer zu packen und einen Neuanfang in der Heimat der Vorfahren zu wagen. Es waren so viele schon vor ihnen gegangen, und bereut haben es nur wenige. Mitte der neunziger Jahre zogen die beiden nach Berlin in die Nähe der Kinder.

Gern erzählte Anatoli von seinem ersten Besuch im Baumarkt. Nichts hat ihn so fasziniert wie diese Fülle an Gerätschaften und Materialien. Dutzende Brot- und Salamisorten im Supermarkt befremdeten ihn, aber dass man bei „Obi“ den Dübel und den Spezialbohrer finden konnte, den man gerade brauchte, das begeisterte ihn noch nach Jahren.

Gefragt aber war Anatoli in Berlin vor allem, weil er gelernt hatte, ohne diesen Service auszukommen. Schon bald nach seiner Ankunft begann er, sich im Museumsdorf Düppel zu engagieren. Er beherrschte Technologien, die in Deutschland in Vergessenheit geraten waren. Wie bei ihm früher Butter geschlagen wurde, konnte er erklären, wie man Früchte und Gemüse mit einfachen Mitteln konserviert, wie man mit dem Allernötigsten auszukommen vermag. Er war ein Kompendium verloren geglaubten Wissens.

Sein besonderes Interesse aber galt den Tieren. Er brachte Konrad, den Ochsen, dazu, einen Wagen zu ziehen, er pflegte das Schweinepaar Fridolin und Eleonore mit Hingabe. Mit der Imkerei hat er noch im Alter angefangen und sich auch darin schnell zu einem kompetenten Fachmann entwickelt. So war er auch davor gefeit, sich in der Gemeinschaft der Russlanddeutschen einzuigeln. Wo er sich bewegte, fand er Freunde jeglicher Herkunft und jeglichen Alters.

Und es ergab sich in Deutschland noch ein Neuanfang für Anatoli. Als er 55 war, traf er erstmals in seinem Leben seinen Vater. Der war 90. Als Zwangsarbeiter hatte es ihn nach Süddeutschland verschlagen, und er war geblieben, um nicht vom KGB der Kollaboration bezichtigt zu werden. So kam es erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu dieser späten Familienzusammenführung. Anatoli sah es als große Gnade an, sich im Alter noch mit seiner Lebensgeschichte versöhnen zu können.

Jörg Machel

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