zum Hauptinhalt

Berlin: André Alexander Teichmann (Geb. 1965)

Bei jedem Besuch waren mehr Häuser verschwunden.

Sein Traum war es, Comic-Zeichner zu werden, so einer wie Hugo Pratt. Dessen Figur, der Kapitän ohne Schiff Corto Maltese, war Alexanders Lieblingsheld. Im ersten Weltkrieg segelte Maltese im Pazifik und erlebte Abenteuer mit Piraten und Kriegsschiffen des Deutschen Kaiserreichs und Großbritanniens. Andrés Leben sollte noch abenteuerlicher werden. Mit seinen mehr als 1,90 Metern sah er auch manchmal aus wie eine Mischung aus Schiffskapitän und Hippie.

Seinen Familiennamen Teichmann kannten nur enge Freunde. Er hatte unter verschiedenen Namen, etwa als André Anders und noch öfter als André Alexander Bücher und Artikel über Tibet veröffentlich.

Geboren im Jahr des Drachens als Sohn eines Schornsteinfegers und einer Frisörin, aufgewachsen zwischen Mehringdamm und Viktoriapark in Kreuzberg, schmiss er sein Studium der Geschichte und wurde als Architekt zu einem der wichtigsten Kämpfer für die Erhaltung der Altstadt von Lhasa. Lange bevor die Mauer fiel, war er mit dem Rucksack nach Tibet gereist und prompt in den ersten Volksaufstand geraten. Die Polizei schoss in die Menge und auch auf ihn. Um ihn herum wurden zehn Demonstranten getötet, er selbst kam nur knapp davon.

Und blieb so mutig wie sein Comic-Vorbild. Als er dabei erwischt wurde, wie er die Ruine einer Polizeistation durchsuchte, die von Rebellen abgebrannt worden war, kam er zwei Wochen ins Gefängnis. Er trampte zwischen Kathmandu und Lhasa, fuhr auf Lastwagen an Schluchten vorbei, in denen verunglückte Busse und Autowracks zu sehen waren und entkam Erdrutschen.

Er hatte mal auf dem Bau gearbeitet, nun interessierte er sich für die Bauweise der Häuser in Lhasa. Die Stadt mit den schmalen Gassen zwischen niedrigen weiß getünchten Steinhäusern hatte es ihm angetan. Er kam nun immer wieder her. Und bei jedem seiner Besuche waren mehr Häuser verschwunden, Block um Block, Straße um Straße. Er zeichnete einen Stadtplan, in dem er jedes noch existierende historische Gebäude eintrug. Es dauerte keine zehn Jahre, da standen von den vermerkten 400 Häusern nicht einmal mehr 150.

Die chinesischen Beamten behaupten, dass die Nachbauten aus Beton in dem Klima angenehmer und bei der Bevölkerung beliebter seien als die traditionellen Häuser mit Innenhof.

André gründete mit Freunden den „Tibet Heritage Fund“ und erreichte, was alle für unmöglich gehalten hatten: Die Funktionäre erlaubten, dass Ausländer bei Rekonstruktion und Denkmalschutz aktiv wurden. André ging es nicht um repräsentative Paläste, sondern um die Häuser der einfachen Leute. Die alten Bauten waren erdbebenresistent und ökologisch.

Bis 1998 hatte er mit 300 tibetischen Handwerkern 20 historische Gebäude gerettet und die Behörden dazu gebracht, mehr als 200 unter Denkmalschutz zu stellen.

Doch im Jahr 2000 wurde er plötzlich aus Lhasa verwiesen. Seine Organisation durfte nicht länger dort arbeiten. Ihm wurden Verstöße gegen die Zensurbestimmungen vorgeworfen. Offenbar befürchteten die Funktionäre, durch seine Erfolge würden die systematischen Zerstörungen gerade ins Blickfeld der Öffentlichkeit geraten.

André setzte sein Werk fort, jetzt in Ost-Tibet, der Mongolei und Indien. Ständig war er unterwegs zwischen dem indischen Ladakh, China und Deutschland. Er hatte einen iPod mit großer Festplatte voller Musik, hauptsächlich Reggae, aber auch Bruce Springsteen. Von dem mochte André besonders diese Zeilen: „Everything dies, baby, that’s a fact. / But maybe everything that dies someday comes back …“

In der Königsstadt Leh im hohen Norden Indiens fand er eine unverfälschte tibetische Kultur. Der Palast über den Wohnquartieren am Berg erinnert an den von Lhasa. Die meiste Zeit lebte er nun hier in einem Altstadthaus, das er selbst restauriert hatte. In einem Innenhof, einst Rastplatz der Karawanen der Seidenstraße von Peking nach Delhi, begann er, ein Museum für tibetische Handwerkskunst zu errichten.

Er schrieb Bücher über die Tempel und die Altstadt von Lhasa und über die mongolische Architektur. Für seine Hilfe bei Erdbeben und Flutkatastrophen in China und Indien bekam er eine Auszeichnung von den Vereinten Nationen. An der Technischen Universität in Berlin hielt er Gastvorlesungen. Seine Wohnung hier hatte er behalten. Im Alter wollte er sich in einem tibetischen Bergdorf zur Ruhe setzen und noch mehr Bücher schreiben.

Im Januar war er in Berlin. Am 21. wollte er seinen 47. Geburtstag begehen. Mit dem Fahrrad war er in Pankow unterwegs zu seiner Feier – und er fiel um, einfach so. Seine Freundin Tashi glaubte, das sei ein schlechter Scherz, doch sein Herz hatte aufgehört zu schlagen.

Auf seiner Homepage hat er Hermann Hesse zitiert, „Klingsors letzter Sommer“: „Ein leidenschaftlicher und raschlebiger Sommer war angebrochen. Die heissen Tage, so lang sie waren, loderten weg wie brennende Fahnen“, bis plötzlich alles vorüber ist, „dieser tolle flackernde Sommertraum, und mit ihm tausend ungetrunkener Becher verschüttet, tausend ungesehene Liebesblicke gebrochen, tausend unwiederbringliche Bilder ungesehen verloschen.“ Falko Hennig

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false