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Berlin: Andreas Dittmann

"Ich bin der Geist, der stets verreist."

Den Sinn des Lebens entdeckte er in der Brückenklause. Die mal albernen, mal tiefsinnigen und immer bierbeflügelten Unterhaltungen mit Klassenkameraden in der Kneipe über dem S-Bahnhof Frohnau nannte er den wichtigsten Ertrag seiner Schulzeit. Mathe, Latein, strenge Lehrer – das brauchte er nicht zur Entwicklung seines Denk- und Redevermögens.

Schon früh erschien ihm der Alltag grau und eintönig. Unfreiheit, Schwere und Enge, wohin er sich auch wandte. Schatten, gegen die er ein Leben lang kämpfte. Nicht nur, aber an erster Stelle mit Bier. Reisen, Natur, Kunst, Freundschaften, Liebe – auch das waren tolle Sachen, aber erst einmal musste die Grundstimmung aufgehellt werden.

Man sah Andreas die tiefe Melancholie nicht sofort an: Spontan, für jeden Spaß zu haben, sangesfreudig, ein humorvoller Zecher von größter Ausdauer, ein Mann von hohem Freizeitwert, wie er selbst sagte. Wer aber oft und lang mit ihm zusammensaß, konnte nicht übersehen: Andreas musste seinen Lebenswillen immer wieder gegen ein Gefühl tiefer Sinnlosigkeit behaupten.

Die Kindheit im bürgerlichen Elternhaus verbrachte Andreas mit Enid-Blyton-Büchern und Stabilbaukästen. Die jüngere Schwester neigte auch zu scheinbar grundloser Traurigkeit. Sie starb mit 20. Andreas sah sich in seinem düsteren Gefühl bestätigt.

Nach der Schule trat er für kurze Zeit in die Studentenverbindung ein, die schon seinen Vater aufgenommen hatte. An der Kameradschaft hatte Andreas Freude, die Fechterei fand er albern. Auch mit dem Jurastudium konnte er nicht viel anfangen und landete schließlich bei den Geologen. Er hatte gehört, da würde viel gereist. Er schaffte seinen Abschluss in kürzester Zeit. Das Thema seiner Diplomarbeit: Die Energieversorgung des isolierten West-Berlin. Später lästerte er, seine Vorbereitung auf die Prüfung in Paläontologie habe in der Lektüre eines Saurier-Comics aus der Reihe „Illustrierte Klassiker“ bestanden.

Arbeit für Geologen gab es nicht, also wurde Andreas Pharmareferent. Später hielt er sich mit Trödelhandel über Wasser und stieg nach vorübergehender Arbeitslosigkeit doch wieder in die Pharmabranche ein. Auch wenn er seine Arbeit gut und gründlich machte, das wahre Leben fand in der Kneipe oder auf Reisen statt. „Ich bin der Geist, der stets verreist“, sagte Andreas. Das Verreisen hielt ihn vom Verneinen ab. Per Rad, Autostopp oder mit dem Zug fuhr er in die Ferne, New Orleans, Kambodscha, Namibia, Skandinavien. Oft dabei: Sein Koffer Marke „Clown Popoff“, die von ihm entwickelte Dittmann-Sohle gegen Schweißfüße und ein überragendes Improvisationstalent.

Im Mai 1982 brachte er Ursula, mit der er seit wenigen Monaten näher bekannt war, zum Bus nach Schönefeld. Sie wollte nach Kreta fliegen. Sie kam am Flughafen an – und da stand: Andreas. Der nächste Kleinbus, den er kurz entschlossen genommen hatte, hatte ihren überholt. Seine Aktentasche und ein wenig Geld vom Wochenendtrödel genügten, er kam einfach mit nach Kreta. Auf einem Motorroller erkundeten die beiden die Insel und kamen als Paar zurück.

Andreas sah sich als „Kneipengelehrten“. Mit Freunden und Bekannten wie Thomas Kapielski, Jes Petersen, Martin Kippenberger oder Bernd Gärtner diskutierte er bis in den Morgen. Systematisches Lernen und Lesen schätzte er nicht. Trotzdem half er Ursula gerne in ihrem Buchladen und hatte auch nichts dagegen, dass sie Tausende von Büchern in die gemeinsame Wohnung brachte. Er hatte ein Talent für Freundschaften und für den Umgang mit Kindern: Ihm fiel immer was Lustiges ein; Erziehungsversuche unternahm er nie. Dagegen hatte er sich schließlich selbst erbittert gewehrt.

Neulingen im Freundeskreis machte er es allerdings nicht leicht. Wie ein kleiner Junge, der Aufziehautos testet, bis die Feder bricht, forschte Andreas nach den Schwachstellen. Merkte er, dass er zu weit gegangen war, gab er einen aus.

Für viele Freunde kam das Ende ohne Vorwarnung: Am Pfingstmontag macht Andreas mit ein paar Freunden einen Ausflug mit der Wannseefähre nach Kladow. Um es mit dem Bier nicht zu übertreiben, trinkt man Erdbeerbowle. Am S-Bahnhof dann doch ein paar Glas Bier. In veränderter Besetzung geht es später bei „Diener“ weiter. Bis in den frühen Morgen, wo das „ozeanische Gefühl der All-Einheit“ beginnt. Die einzige Religion, die Andreas für sich gelten lässt.

Kurz darauf wird er tot in seinem Bett gefunden. Die Freunde tun, was der Verstorbene getan hätte: Sie setzen sich in einer Kneipe zusammen und erzählen die vielen Geschichten, die sie mit Andreas verbinden. Anselm Neft

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