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Berlin: Andreas Marth (Geb. 1965)

„Was soll mir denn passieren? Ich bin erfahren"

Wandern im Schnee, fernab der Piste, mitten in der Wildnis. Nur er, der unendliche Himmel und die Weite der Berge. Nordlichter will er sehen. Auf die Berge rauf und mit den Skiern wieder runterdüsen. Sehnsuchtsmomente. Von der Reise nach Norwegen träumt er schon lange.

Nur seine Frau muss noch zustimmen. Doch die hat auf einmal Zweifel, zum ersten Mal überhaupt. Bisher hat es sie nie gestört, dass ihr Mann mal wieder in den Schnee hinauswollte. Sie wusste ja, wie glücklich er dabei war. „Wenn dir diesmal aber was passiert?“, fragt sie ihn. „Was soll mir denn passieren? Ich bin erfahren. Habe meine Lawinenschippe dabei, die Sonde und mein Rucksack-Luftsystem“, antwortet er.

Da sind zwei Seelen in seiner Brust, die sich gegenseitig brauchen. Die eine ist die des Fleißigen und Bodenständigen, die Ingenieursseele. Schon immer Siemens. Schon immer Reinickendorf. Seine beiden Söhne besuchen dieselbe Grundschule, in die er gegangen ist. Seine Mutter wohnt auch nur ein paar Schritte weiter. Wenn sie Hilfe braucht, kommt er nach der Arbeit noch mal rum, mit der Glühbirne, mit dem Einkauf, mit was auch immer. Andreas, der liebe Junge. Der, als er mit 15 das erste Mal zu viel getrunken hatte, auf der Gartenparty seines Religionslehrers, vom Schulfreund zu Hause mit den Worten abgeliefert wurde: „Der Kartoffelsalat muss wohl schlecht gewesen sein.“

Andreas weiß, dass aus ihm was werden kann, was werden soll: So macht er nach dem Realschulabschluss und der Ausbildung zum Feinmechaniker weiter, arbeitet tagsüber für die Brötchen und büffelt abends fürs Abitur, dann gleich noch ein Studium hinterher. Schließlich geht er zu Siemens als Entwickler in der Hochspannungsabteilung. Zwei Patente meldet er an.

Immerfort überlegt er, wie er bestehende Dinge verbessern kann. Und er hebt alles auf. Sein Schreibtisch ist ein Ersatzteillager. Braucht ein Kollege noch eine Schraube von diesem einen Gerät von vor sechs Jahren, Andreas hat sie garantiert in einer seiner Schubladen.

Die andere Seele lässt ihn das Abenteuer suchen, die Freiheit und den Spaß. Gegen den Willen des Vaters macht er einen Motorradführerschein und fährt, als er 21 ist, mit seiner roten Honda XL600R bis zum Nordkap, nur er und drei Freunde. Sommer, Wind und Freiheit, die jugendlichen Barthaare rasiert er sich vorm Rückspiegel seines Motorrads. Wenn es Winter wird und seine fünf Motorräder wieder in die Garage müssen, saust er mit den Skiern den Berg hinunter.

Das ist der Andreas, den Sabine 1993 kennenlernt. Er als Skilehrer und sie zum zweiten Mal überhaupt auf Skiern. Was sie an ihm mochte? Erst mal gar nichts. Arrogant kam er ihr vor, wie er sie mit ihrer Angst vor der Abfahrt abkanzelte: „Schon mal auf den Brettern gestanden? Dann passt das schon.“ Doch er sieht so verdammt gut aus, schlank, trainiert. Das Profil seines Gesichts könnte sie stundenlang ansehen. Und da, wo Andreas ist, da ist was los, da wird gelacht, da ist gute Laune. Später gesteht er ihr, dass er sie in diesem ersten Moment schon interessant fand, aber nicht wusste, wie er vor versammelter Mannschaft richtig reagieren sollte. Sie verlieben sich, ziehen zusammen, heiraten und bekommen zwei Jungs.

Ruhige, gemütliche Familiensonntage sind nicht sein Ding. Fahrrad- und Segeltouren, Joggen, Fallschirmspringen, den Jungen zum Fußballtraining begleiten, die nächste Skireise planen, die ausgefallensten Faschingskostüme selber basteln, als Obelix oder als Arktos, der Schneemann. Immer hat Andreas noch etwas zu tun. Was er tut, kann er gut, aber er ist kein Angeber. Eher einer, der sagt: „Ich hab da mal was ausprobiert.“

Und dann geht es endlich nach Norwegen. Sabine begleitet ihn per Whatsapp. Er schickt Fotos, er beschreibt die Möwenschreie und den Algengeruch am Hafen, den Schnee und die ersten vier Tage in den Bergen. Glücklich sieht er aus, ein Grinsen von Ohr zu Ohr. Berg rauf, Berg wieder runter. Andreas ist in seinem Element. Als am fünften Tag die Tour vorbei ist und er Rucksack und Ausrüstung abgelegt hat, will er noch Fotos machen. Ein paar Schritte tritt er zurück, da löst sich unter ihm der Schnee. Andreas stürzt ab, eine Lawine begräbt ihn.

Als Sabine ihn wiedersieht, im Krankenhaus am Beatmungsgerät, da lebt er noch. So friedlich und unversehrt sieht er aus, als ob nichts geschehen wären. Ihr Andreas. Sie kann nur noch seine Hand halten, an diesem Ostersonntag, bis er sich endgültig aufmacht zu seiner letzten großen Abfahrt.

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