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Berlin: Anette Schill (Geb. 1957)

Klingt mühsam, ist mühsam, aber Hierarchie funktioniert auch nicht besser

Jeden Dienstag, 21 Uhr 45, versammelte sich der harte Kern der Hausbesetzer in der Regenbogenfabrik vor dem Fernsehapparat. Anrufe wurden keine mehr entgegengenommen, Störungen nicht geduldet, es lief: „Dallas“. Die Serie um die intrigengebeutelte Ölfördererdynastie war Pflicht, natürlich weil J. R. Ewing der Prototyp aller hinterlistigen Spekulanten war, die auch in Kreuzberg ihr Unwesen trieben, aber vor allem, weil es Spaß machte.

Utopisten haben ja oft schlechte Laune, weil die gute Zukunft noch so fern ist. Nicht mit Anette. Die Zukunft ist jetzt. Und wenn nichts mehr hilft, hilft immer noch Humor. Die ganze Arbeit in der Regenbogenfabrik wäre mit miesepetriger Mine gar nicht zu packen gewesen. Mit Absichtserklärungen schon gar nicht. Ein Spatenstich zählt mehr als tausend Worte. Und Zupacken hatte Anette von Kindesbeinen an gelernt.

Auf dem Knopfmacher, einem Ausflugslokal nahe Tuttlingen, hat sie mit ihren Geschwistern an jedem Wochenende geschuftet. Zwei Schwestern, ein Bruder und 130 Gäste auf der Terrasse, ein Familienbetrieb, da gab es Zoff ohne Ende, aber auch Zusammenhalt. Mit 18 wurde es ihr zu eng. Sie ging nach Berlin, studierte Erziehungswissenschaften und stürzte sich geradewegs in die Praxis.

Die Regenbogenfabrik, das war ihr Leben. Vom ersten Tag an war sie dabei. Sie hat den vorläufigen Nutzungsvertrag mit erkämpft, aber es dauerte noch eine Weile, genau genommen 11 224 Tage, bis ein langfristiger Mietvertrag unterschrieben werden konnte.

Tausende Tage Bangen, ob die eigene Arbeit und die aller anderen nicht durch einen Federstrich weggewischt werden konnte. Alles war aufregend damals. Wie benimmt man sich in einem besetzten Haus, es war ja auch für sie das erste Mal. Und es war der Sommer, als ihre Tochter geboren wurde, Jenny, für die alle in der Fabrik Familie wurden. Kleine Erziehungskonflikte mit eingeschlossen. Currywurst oder McDonald’s? Alles wurde im Gespräch geklärt. Im Kleinen wie im Großen. Klingt mühsam, ist mühsam, aber Hierarchie funktioniert auch nicht besser.

Anette hielt mit ihrer Meinung nie hinterm Berg. Sie war nicht leise, schon gar nicht, wenn sie Ungerechtigkeit spürte, aber sie musste auch nicht laut werden, um sich durchzusetzen. Jeder spürte, dass es ihr ernst war. „Von ihr: Ja.“ Von ihr ließ man sich was sagen und sich auch mal anmotzen, weil sie nicht nachtragend war und nicht auftrumpfend. Niemals nie durfte man allerdings „Chefie“ zu ihr sagen, nur Lebensmüde taten das. Ihr Programm war Dialog. Auf andere zugehen. Auch auf den vermeintlichen Gegner. Wer Ergebnisse will, darf Begegnungen nicht scheuen. Sie hat immer wieder Spielräume ausgelotet. Das war ihre Stärke. Jeder hat einen kleinen Spielraum, auch ein Sachbearbeiter in seiner bürokratischen Zwangsjacke. Die Frage ist nur, wie man mit ihm umgeht. Ihm seine Möglichkeiten klarmachen, darin war sie stark. Andere so sein zu lassen, wie sie sind, und sie dennoch zu fordern. „Da ist noch was drin.“

Das ist anstrengend auf die Dauer. Erst recht, wenn die Gesundheit nicht mehr mitspielt. Ihr ging die Puste aus, eine Lungenkrankheit. Sie konnte nicht mehr so wie früher, alles ging ein wenig langsamer. Die Tempoanpassung ist ihr gelungen, unter Murren. Ihre Schwäche war, dass sie immer so stark war. Davon Abstand zu nehmen, von den eigenen Erwartungen, der Pflichterfüllung, das war für sie nicht einfach, und auch nicht für ihren Freund Jonny, mit dem sie 30 Jahre zusammen war.

Zuweilen hat sie sich eingeigelt, zuweilen sich während der Autofahrt bei Jonny einfach ausgekotzt. Das gehörte dazu. Raus damit. Dann kam sie in ihrem Garten an der Dosse an, kümmerte sich um die Blumen und war wieder ganz bei sich. Oder sie ist Dampfer gefahren, die Anlegestelle für das Schiff zur Pfaueninsel lag ja vor der Haustür. Aber zu lange konnte sie nie wegbleiben, dann wollte sie wieder nach Hause.

Winterbasar in der Regenbogenfabrik. Sie mochte Weihnachtslieder und Lametta satt. Die Socken aus Wusterhausen, vom Seniorenklub der Volkssolidarität, die waren der Renner, und die Marmelade aus dem eigenen Garten. Und der Zusammenhalt aller war so zum Greifen nah. Anette hat gezeigt: Es geht. Die Regenbogenfabrik, das Werk so vieler, so unterschiedlicher Menschen, steht immer noch. Utopie ist machbar, Herr Nachbar.

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