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Zum zweiten Mal in diesem Jahr treffen sich die Berliner Piraten zu einem Landesparteitag.

© dpa

Angers Rückkehr an die Spitze der Piraten: Hey Chef, hinsetzen!

Gerhard Anger ist zurück an der Spitze der Berliner Piraten. Und die Partei muss sich entscheiden: Macht sie weiter damit, fähige Personen so lange zu schinden und öffentlich zu blamieren, bis diese entnervt aufgeben?

Plötzlich steht er wieder im Fokus und hat ein bisschen Mühe, sich zu orientieren. „Da rüber bitte.“ Gerhard Anger weiß nicht so recht, wohin mit sich. „Nein, das Licht stimmt nicht“, sagt ein Fotograf zu ihm, „bitte mal nach rechts, vor das Fahrrad.“ Dann rasselt die Kamera los.

Gerhard Anger ist zurück an der Spitze der Berliner Piraten. Er trug als Landeschef maßgeblich dazu bei, dass sie vor einem Jahr ins Abgeordnetenhaus und damit ins Scheinwerferlicht der Republik rückten. Doch Anger wurde es zu viel. Im Februar hat er sich erschöpft und ausgebrannt vom Parteivorsitz zurückgezogen. Da setzte die Partei erst noch zu ihrem Höhenflug an. Zeitweilig lag sie bundesweit in Umfragen bei 14 Prozent. Nun droht sie ebenfalls auszubrennen. Im kommenden Jahr wird sich zeigen, ob die Piraten in den Bundestag einziehen werden oder als gescheitertes Experiment in der Requisitenkammer der parlamentarischen Demokratie verschwinden.

Anger will das verhindern, deshalb ist er am Sonnabend erneut angetreten auf dem Parteitag, der am heutigen Sonntag fortgesetzt wird und mit einem eindringlichen Weckruf von Fraktionschef Christopher Lauer an die Basis begann. ""Die Gräben zwischen Menschen und Politik rekonstruieren wir, seit wir im Abgeordnetenhaus sind", sagte Lauer und sprach auch von seinem ganz persönlichen Verlust an Privatsphäre und Lebensqualität durch die politische Arbeit.

Die Partei muss sich entscheiden: Macht sie weiter damit, fähige Personen so lange zu schinden und öffentlich zu blamieren, bis diese entnervt aufgeben? Anger war seinerzeit nur einer von mehreren prominenten Spitzenpiraten, die das alles nicht mehr ausgehalten haben: immer in der vordersten Reihe zu stehen, wenn ein Shitstorm herabregnet, wie im Internet kollektive Schimpftiraden genannt werden. Es ist ein Strukturproblem der Partei, ihr zu Diensten zu stehen, aber viel zu wenig zurückzubekommen.

Das braucht Gerhard Anger, ein ohnehin scheuer Typ, nicht noch einmal. Mit leisen Tönen beginnt er in der Universal Hall in Moabit seine Bewerbungsrede. Wählt mich nicht, wenn Ihr eine 24/7-Bereitschaft erwartet. Wählt mich nicht, wenn ich jeden Streit schlichten, jedes Feuer löschen soll. Wählt mich nicht, wenn ich Familie, Freunde, Erwerbsarbeit vernachlässigen soll. Wählt mich nicht, wenn mein Fell dick genug sein soll, um jeden Shitstorm zu überstehen.

Jemand, der so entschieden nicht will wie Gerhard Anger, dem schenken die Piraten sofort ihr Vertrauen, mit deutlichem Vorsprung.

Vorstandswahlen sind die Stunde der Köpfe. Aber Köpfe haben es schwer in der Partei. Die glaubt an die Intelligenz des Schwarms. Wie klug der Einzelne ist, ist ihr nicht wichtig.

Ein Jahr ist es her, dass mit den Piraten ein Versprechen ins Berliner Abgeordnetenhaus einzog. Christopher Lauer, der später einer von zwei Fraktionschefs werden sollte, präsentierte es bei einer spontanen Pressekonferenz am Morgen nach der Wahl als „das Internet“. Das reichte, um Politik plötzlich sehr neu und anders aussehen zu lassen.

Der Ladebalken steht still

Ein Update für die Demokratie – darunter machen es die Piraten noch immer nicht. Im Moment aber steht der Ladebalken still. In der Wählergunst liegen sie nun bei sechs Prozent. Der Einzug in den Bundestag scheint plötzlich so unsicher, wie er es vermutlich immer gewesen ist. Von Absturz ist die Rede. Dabei haben sich die Piraten in Berlin aus einer Kampagnentruppe in einen arbeitsfähigen Betrieb weiterentwickelt. Sie versenden Pressemitteilungen, sie stellen kleine Anfragen. Aber manchmal wundern sie sich selbst, warum sie das alles tun und ob es das war, was sie erreichen wollten. Von außen betrachtet scheint es, als hätten sie sich eingefügt ins System, dem sie das System Internet, dessen Datenflüsse und Diskurskultur, entgegensetzen wollen. Letztlich aber sind sie Sonderlinge geblieben. Die Konkurrenz nämlich ist völlig unbeeindruckt davon, wie die Piraten Politik betreiben.

Das liegt vermutlich daran, dass sich die bürgerlichen und traditionslinken Parteien nicht mal eben so in Administratoren verwandeln können, selbst wenn sie es wollten. Aber die Orangefarbenen wenigstens verstehen wollen, das könnten sie schon.

Als die Piraten ihren Entwurf für ein Transparenzgesetz vorlegten, hat sich die Diskrepanz besonders deutlich gezeigt. In Hamburg gibt es ein solches Gesetz bereits, alle fünf Fraktionen in der Bürgerschaft haben es gemeinsam beschlossen, es gilt als wegweisend. Was also taten die Piraten? Sie nahmen das Gesetz, ersetzten „Hamburg“ durch „Berlin“, „Bürgerschaft“ durch „Abgeordnetenhaus“. Fertig war ihr wichtigster Gesetzesvorschlag des vergangenen Jahres. Zumindest beinahe, denn wer immer es war, der die „Suchen und Ersetzen“-Funktion angewandt hatte, war nicht gründlich genug vorgegangen. An einer Stelle war noch vom „Hamburgischen“ Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit die Rede.

Gerhard Anger ist wieder Landeschef der Berliner Piraten.
Gerhard Anger ist wieder Landeschef der Berliner Piraten.

© dapd

Die Häme der Konkurrenz war groß. Abgeschrieben hatten die Piraten, und selbst das hatten sie nicht hinbekommen. Halb aber prallte der Spott an den Piraten ab, halb ließ er sie ratlos zurück. Die anderen halten es für armselig, einen Gesetzentwurf zu kopieren. Die Piraten würden es für eine Verschwendung von Zeit, Geld und Mühe halten, das nicht zu tun. Denn im Netz, ihrer Heimat, ist die gelungene Kopie kein Abklatsch. Sie ist eine Hommage.

Schwerer wiegt allerdings ein anderes Missverständnis. Es ist der routiniert ausgefochtene Stellungskrieg der Fraktionen, mit dem die Piraten nichts anzufangen wissen. Sie ertragen nur schlecht, wenn statt einer Diskussion ein Rollenspiel stattfindet, eine Inszenierung, in der die ritualisierte Gegner- und Bruderschaft eine Sachdebatte überlagert. „Es geht im Abgeordnetenhaus nicht darum, was man machen könnte, über Parteigrenzen hinweg. Es ist alles eher Show.“ Dieses Fazit zieht Fraktionschef Christopher Lauer nach einem Jahr.

Von der Gegenseite kommen allerdings ähnliche Vorwürfe: Die Piraten würden sich nicht loyal mit den anderen Oppositionsparteien zeigen, sondern fortgesetzt gegen diese austeilen, sagt Benedikt Lux, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen.

"Das ganze System ist komplett abgefuckt."

Lauer aber sieht das ganz anders: Die anderen hätten immer nur Angst, Stimmen, Prozente, ihren „Markenkern“ zu verlieren, würden sich deshalb der Zusammenarbeit verweigern. Und in der Tat würde ein Pirat wohl lieber einem exzellenten Gesetzentwurf der Konkurrenz zustimmen als einem uninspirierten eigenen. Mit diesem Pragmatismus aber fallen die Piraten im Parlament aus dem Rahmen. Seit er im Abgeordnetenhaus sitze, habe es noch nicht eine Plenarsitzung gegeben, sagt Lauer, auf der nicht am Ende, wenn die Kameras abgebaut, die Reporter verschwunden waren, Besprechungspunkte vertagt, gekürzt, gestrichen wurden. Als Showdemokratie empfindet er ein solches Parlament. Sein Fazit: „Das ganze System ist komplett abgefuckt.“

Dass die Piraten einem wie Christopher Lauer, der sich nicht einmal bemüht, seine Arroganz mit einem Hauch von Höflichkeit zu ummanteln, überhaupt eine Bühne bieten, hat er auch dem Gleichmut zu verdanken, mit dem die Piraten jeden nehmen, wie er ist, vom Freak bis zum Biedermann, vom Anpacker bis zum Mitläufer. Lauer kennt keine Beißhemmung. „Ihr macht es uns Journalisten aber auch so etwas von leicht....“, schrieb ein Reporter der Boulevardzeitung „B.Z.“ auf Twitter, als die Piraten ihren kopierten Gesetzentwurf vorlegten. „Sie kennen Journalisten?“, fragte Lauer zurück. „Irre.“

Die Piraten ertragen Lauer, aber nur in Maßen. Lauer ist nicht nur forsch, sondern auch clever, er weiß, was er erreichen will in der Politik. Bei den Piraten sind es die Umtriebigen, Emsigen, die, die dafür sorgen, dass sich das Piratenrad immer weiterdreht, die von allen gemocht werden. Die Vordenker aber, die dem Rad eine Richtung geben wollen, sind der Partei nicht geheuer. Lauer ist so einer.

Als er kürzlich einen Gesetzentwurf zum Urheberrecht vorlegte, bekam er das zu spüren. Er hatte, bei einem der wichtigsten Piratenthemen überhaupt, irgendwann die Geduld verloren mit der Basis, die einen konkreten Gesetzentwurf einfach nicht zustande brachte. Er preschte vor, unabgestimmt, und wurde, wie es sich beinahe schon gehört, von der Basis niedergemacht. Es war so erwartbar, dass es schon fast keine Rolle mehr spielte.

Redet da gerade etwa jemand? Der Parteitag der Berliner Piraten setzt Multitasking voraus.
Redet da gerade etwa jemand? Der Parteitag der Berliner Piraten setzt Multitasking voraus.

© dapd

Die Piraten sind lieber gemeinsam mittelmäßig, als dass einer einzeln glänzt. Dafür nehmen sie in Kauf, dass ihre Stimme in keiner der großen politischen Debatten der vergangenen Monate zu hören gewesen ist. Der Basis ist es egal, wer unter ihr Vorstand ist, so heißt es bei ihnen.

Das bekommt auch Gerhard Anger am Sonnabend zu spüren. Nur Minuten nach seiner Wahl steht er im Saal, nimmt Glückwünsche entgegen. Da schallt es vom Podium: „Hinsetzen, auch dieser Anger da.“ Es soll ironisch klingen, aber die Botschaft hat auch einen knallharten Kern: Allzu sehr herausstechen darf niemand, auch einer nicht, den sie hier gerade erst zum Chef gemacht haben.

Gelassenheit durch Transparenz

Die Piraten sind nicht so geworden wie die anderen, aber haben sie geschafft, was sie sich selbst vorgenommen hatten?

Nicht unbedingt. An einem Wahlprogramm, das die Erwartungen der Wähler aufgreifen würde, laborieren die Technokraten unbeholfen herum. Und auch beim Thema Transparenz haben sie ihre Versprechen noch nicht erfüllt. Von der „Tragik der Partei“ sprach neulich ein Berliner Pirat. Er meinte: „Alles ist wahnsinnig transparent, aber keiner kriegt was mit.“ Es ist ein Stoßseufzer über die wachsende Kluft zwischen Vollzeit- und Gelegenheitspiraten. In der Informationsflut, die so eine Abgeordnetenhausfraktion produziert, geht das ordentliche Parteimitglied unter. Und wenn die Basis sich empört, dass die Fraktion sich hinter verschlossenen Türen zur Klausur trifft, können die Abgeordneten die Erregung nicht einmal mehr nachvollziehen.

Am Tag vor dem Parteitag sitzt Martin Delius, als designierter Vorsitzender des BER-Untersuchungsausschusses einer der wichtigsten Köpfe der Fraktion, in einem Fast-Food-Restaurant am Südkreuz und referiert bei Burger und Milchshake, wie er sich die Ausschussarbeit vorstellt: Dass es eine spezielle Open-Source-Software geben soll, auf der Bürger Einblick in Dokumente nehmen und darüber diskutieren können; dass die Piratenfraktion bereits jetzt umfangreich in Blogposts und einer Dokumentenliste dokumentiert, um welche Unterlagen und Anliegen es ihnen beim Flughafen geht.

So weit, so piratig. Aber Delius spricht auch ausführlich darüber, dass Transparenz nichts nutze, wenn sie die Ergebnisse kompromittiere. Und dass man gerade im Ausschuss die Unterstützung der anderen, weniger offenen Parteien brauche. Ist das noch der Furor von 2011, der Wille, alles einsehbar zu machen, vom Bürger mitgestalten zu lassen? Oder sehen wir einem jungen Mann – Burger hin, Kapuzenpulli her – dabei zu, sich immer besser reinzufuchsen in die politische Arbeit der kleinen Kuhhändel und Schritte?

Delius zumindest will den Transparenzfuror in Sachen BER auch bei den Piraten nie gesehen haben. „Wer hat denn behauptet, die Ausschussarbeit sei komplett transparent zu machen?“, fragt er. Nein, das hat nie jemand behauptet, und da klingt er schon wie ein Alter. Delius ist da angekommen, die Interessen der anderen Parteien gegen die der eigenen Basis abzuwägen.

„Gelassenheit durch Transparenz“, unter diesem Motto will Gerhard Anger die Arbeit im Landesverband neu ausrichten. Was man vielleicht als einen Wunsch übersetzen könnte: Je mehr Offenheit sich die Partei gönnt, desto ruhiger geht es zu. Wobei das Thema für Anger eine Herzenssache ist. War er es doch, der im Juni kräftig gegen seine eigene Partei austeilte und sogar davor warnte, die Piraten zu wählen. Nichts habe man umgesetzt von all den Transparenzversprechen. Er fühle sich als „Lügner“, sagte Anger, weil er einst für die Piraten geworben habe.

Nun ist er, der aus der Partei eigentlich schon austreten wollte, zurück. Um es besser zu machen.

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