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Berlin: Anian Mahatma Schmincke (Geb. 1997)

Warum müssen alle zum selben Zeitpunkt in der Schule sein?

Von David Ensikat

Ein Wunschkind war er, Anian, der, solange er im Bauch der Mutter lag, nur Mahatma hieß.

Die Mutter hatte den Vater in Indien besucht, wo er für ein paar Monate arbeitete. Sie fühlten sich so wohl dort, und es gab so viele Menschen, und die beiden liebten sich und sagten sich: Warum nicht einer mehr, einer von uns. Und weil sie sich in Indien befanden, nannten sie ihre Idee vom Kind, ihren Wunsch: Mahatma.

Mahatma kam zur Welt in Deutschland, wo so ein Name für ein Kind ständiger Erklärung bedarf. So nannten sie ihn mit erstem Namen Anian. Die Großmutter aus Oberbayern hatte den Namen vorgeschlagen: Anianus hieß ein Mönch aus Irland, der vor vielen hundert Jahren die Oberbayern vom Christentum unterrichtet hatte.

Über die irische Kindheit Anianus’ im ersten Jahrtausend ist nichts überliefert, Anians Kindheit an der Schwelle vom zweiten zum dritten Jahrtausend war eine glückliche in Berlin-Friedenau, in den Ferien oft bei den Eltern des Vaters in Oberbayern und bei der Familie der Mutter im Bergischen Land. Die Tante aus Wuppertal hielt zu Anians Beerdigung eine Rede. Sie erzählte von ihren Ausflügen in den Vergnügungspark und auch die Geschichte mit dem Schlafanzug: „An unserem Einkaufstag wollten wir pünktlich los und Anian sollte sich endlich waschen, anziehen, kämmen und sich schon mal ins Auto setzen. In der Stadt öffnete ich die Autotür, und sah, wie Anian seelenruhig ausstieg, ungewaschen, ungekämmt und mit Schlafanzug und zum Glück mit Sandalen. Wir mussten beide lachen, und so spazierten wir im Schlafanzug durch Wuppertal.“

Das nämlich war Anian: verträumt, so sicher und vertrauensvoll in seiner heilen Kinderwelt, dass die Zumutungen der Erwachsenenwelt, angemessene Kleidung, Pünktlichkeit, Konkurrenz, ihn kaum erreichten. Warum müssen alle zum selben Zeitpunkt in der Schule sein? Was für ein merkwürdiges Argument war dieses „Die anderen können das doch auch“, wenn es ums Radfahren und ums Schwimmen ging? Anian kam zu spät zur Schule, so arglos, selbstverständlich, dass es der Lehrerin schwerfiel, ihm das übel zu nehmen. Er lernte Radfahren und Schwimmen zu einem Zeitpunkt, der ihm selbst angemessen erschien, viel später als die anderen. Wettbewerbe, wer der Schnellste, Stärkste, Größte sei, waren ihm fremd.

Wenn die anderen Fußball spielten, spielte er auch mit, manchmal. Sie stellten ihn nach hinten oder ins Tor, wo es nicht so sehr ums Vorwärtsrennen geht.

Und trotzdem mochten sie ihn. Anian gehörte weder zu den Coolen noch zu den Uncoolen. Weil er so speziell war, klug, weil er sich mit speziellen Dingen auskannte, gehörte er zu allen.

Wenn die Freunde mit ihren Yu- Gi-Oh-Karten spielten, wie man das eben tut, sich also nach den Angaben der Karten richteten, die sie in Händen hielten, dachte sich Anian ganz neue, eigene aus. Die Freunde staunten, woher er die Ideen nahm. Sie konnten ihm nicht immer folgen.

Das war ihm aber wichtig, dass man ihm folgte, dass man sich interessierte für seine Einfälle. Irgendwann begann er, sich ganze Welten auszudenken mit Fabelwesen, Königen und Monstern. Er zeichnete Landkarten mit unendlicher Geduld, und alles darin hatte einen Zweck. Wo können Rohstoffe gewonnen werden, Eisen, Holz, wie kann man sie transportieren? Es gibt eine eigene Währung, die Wirtschaft floriert – und es entstehen Neid und Missgunst. Ein Unterwasserbollwerk stoppt angreifende Schiffe.

Bei der Leiterin des Schulhorts machte sich Anian Termine, einmal pro Woche eine Stunde. In ihrem Büro berichtete er von seinen Erfindungen, und sie bemühte sich zu folgen. Das musste sie, denn es kam vor, dass sie eine Frage stellte, etwa nach der Königin, wer denn die Königin beschützt, und Anian war ganz enttäuscht, denn das mit der Königin hatte er ihr in der letzten Sprechstunde erklärt. Sie machte sich von da an Notizen, um auf dem Stand zu bleiben.

Anians letzte Welt bevölkerten die Kiwis, jene sonderbaren Vögel, die es auch auf unserer Welt gibt, allerdings auf der anderen Seite, in Neuseeland. Kiwis sind sonderbare Geschöpfe, Vögel ohne Flügel mit Federn, die wie Fell aussehen, monogam und mit einem langen Schnabel ausgestattet, der ihnen als Stütze dient, weil die dürren Beine nur mit Mühe den runden Körper tragen können. Anders als die neuseeländischen glichen Anians Kiwis ihre Makel mit Intelligenz aus; sie sprachen, bauten Pflanzen an, förderten Erz aus Bergwerken, hüteten ein Heiligtum und verfügten über ein ausgeklügeltes Transportsystem auf Schienen.

Mit seiner perfekten Kiwiwelt befasste sich Anian auch noch im Krankenhaus, als seine Freunde ihn nicht mehr besuchen durften. Seit dem Frühling dieses Jahres saß er da, in einem Zimmer, steril und abgeschirmt, Ärzte und Krankenschwestern um sich herum, auch seine Eltern, die abwechselnd bei ihm waren.

Eine Blutkrankheit hatte ihn schwach werden lassen, niemand kann sagen, woher sie kam, warum. Die Ärzte nannten die Krankheit „Aplastische Anämie“ und schlugen Behandlungswege vor, die Transplantation von Knochenmark. Sie behandelten und operierten, und immer hieß es, es sei schwierig, aber Anians Chancen stünden gar nicht schlecht.

Anian ließ all das geschehen, die Krankheitsschübe, die Behandlungen, das Ohne-Freunde-Sein, geduldig, furchtlos. Erwachsene hätten aufbegehrt, ihr Schicksal und die Welt beklagt, den Skandal dieser Erkrankung, die scheinbar keinen Grund hatte, keine Ursache, und die durch nichts aufzuhalten war. Anian begehrte nicht auf, und er klagte nicht. Als der Tod kam, hat er tief geschlafen. David Ensikat

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