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Berlin: Anlässlich des 60. Jahrestages versammeln sich Zeitzeugen und Prominenz

Das Verfallsdatum für lebendige Geschichte muss bei 50 Jahren liegen. Danach schlägt die Stunde der Geschichtsbücher.

Das Verfallsdatum für lebendige Geschichte muss bei 50 Jahren liegen. Danach schlägt die Stunde der Geschichtsbücher.

Von weitem sah die Versammlung vor der Philharmonie aus wie eine Beerdigung. Fast überraschend wirkte das fröhliche Stimmengewirr, wenn man näher kam. Die polnische Botschaft hatte zum Gedenkkonzert zum 1. September 1939 eingeladen, und fast alle hatten sich in Schwarz gehüllt. Vielleicht um das Grab der Gespenster dieses Jahrhunderts am letzten 1. September vor dem Jahr 2000 noch einmal zu versiegeln. Schön schien die Abendsonne auf den Potsdamer Platz und auf das Kulturforum. Es war auch ein schöner Abend vor 60 Jahren, daran erinnerte der polnische Botschafter in seiner Begrüßungsansprache. Die Sterne schienen, aber der Krieg dauerte da schon 15 Stunden, und die Abgründe der Verzweiflung warteten in nächster Nähe.

Unter den Gästen der Botschaft waren der ehemalige Bundespräsident von Weizsäcker, die grüne Spitzenkandidatin Renate Künast, Bundestagspräsident Wolfgang Thierse und der frühere polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski. Nach 60 Jahren sind unter den Geladenen nur noch wenige, die sich tatsächlich erinnern können. Zeitzeugen, die in den Begrüßungen eigens hervorgehoben wurden, waren umworben von den Veranstaltern der vielen kleinen Gedenkforen, die dieser Tage stattgefunden hatten. Der tschechische Botschafter Frantisek Cerny etwa, der eigens aus Bonn gekommen war, um an dem Gedenkkonzert teilzunehmen, war damals acht Jahre alt, aber lieber als über die Erinnerungen an damals sprach er über die politischen Sorgen der Jetzt-Zeit.

Dieser Abend verlangt dennoch nach dem Blick zurück. Man muss, bevor die Musik beginnt, nur einmal versuchen, sich vorzustellen, wie diese Stadt geklungen haben mag am Beginn eines Krieges. Da draußen, auf den gleichen Straßen, auf die jetzt die Abendsonne scheint, paradierende Massen mit fanatischen Parolen, voller Hass auf Leute, die sie nicht mal kannten. Nach sechzig Jahren ist das nahezu unvorstellbar. Obwohl über den im September 1939 heraufbeschworenen Krieg bereits fast alles gesagt und geschrieben worden sei, seien wir bis heute nicht im Stande, das Ausmaß an Rücksichtslosigkeit und vernichtender Gewalt zu begreifen, die Ausrottung kultureller Eliten und die Vernichtung kultureller Errungenschaften ganzer Generationen, sagte Sejm-Marschall Maciej Plazynski in seiner Ansprache. Auch ein Schrecken mit Geschichtsbuchreife kann eine Dimension der Wortlosigkeit behalten.

Das vom Komponisten Krzysztof Penderecki selbst dirigierte Polnische Requiem mit seiner tiefreligiösen Dramatik mahnte so auch an die kulturellen Fundamente, die den Krieg und den Kalten Krieg in Polen vergleichsweise unbeschadet überstanden haben.

Dazu sind Gedenkkonzerte wohl auch da: Damit bei allen hoffnungsfrohen Ausblicken auf das Europa des nächsten Jahrtausends nicht die kleinen Flächenbrände von Hass und Menschenverachtung aus dem Blickfeld geraten, die es gehabten Schrecken zum Trotz immer noch gibt.

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