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Berlin: Anna Bodwin (Geb. 1925)

"Jahrelang bin ich ein braves Mädchen gewesen"

Eines Tages, als Anna sich mit einem Schulaufsatz abmühte, mitten in einem Satz stecken blieb, den Kopf hob und aus dem Fenster schaute, sah sie eine Dame die Straße entlanggehen. Sie war jung und schlank, hatte ihre blonden Haare zu einem Bubikopf schneiden lassen und trug ein leichtes fliederfarbenes Kleid, das hinter ihr herwehte. Vor der Tür gegenüber Annas Fenster blieb die Dame stehen und läutete, ein Herr öffnete und sie verschwand.

Anna blieb regungslos sitzen. Erwachte erst, als ein hupendes Auto die Stille zerschnitt. Sie trat vor den Spiegel. Sah darin ein rundes Gesicht, krauses dunkles Haar und ein Kleid, das in den Hüften spannte. „Ich drehte mich auf dem Absatz um, legte mich auf mein Bett und dachte nach“, schrieb sie Jahrzehnte später in einem Brief an einen Mann, der sie einmal geliebt hatte. „Ich wollte nicht mehr jeden Morgen den von meiner Mutter gekochten Haferbrei essen, ich wollte kurze, glatte Haare, ich wollte mich nicht länger in meine Kinderkleider pressen.“

Sie nahm ab, sie ließ sich die Haare schneiden, nähte ein Kleid aus lila Seide und ging aus, in Cafés, in Tanzlokale und in Varietés. Die Männer schauten ihr hinterher, wenn ihr Kleid ihre Beine umspielte, sie tat so, als sähe sie die Blicke nicht und ließ sich zum Tanz bitten. Sie rauchte, trank und lachte laut. Und die Männer versprachen ihr das Blaue vom Himmel. Aber Anna wollte keinen Ehemann, kein hübsches Heim, keine Kinder. Ihre Mutter schrie sie an, bettelte, sie solle zur Vernunft kommen. Ihr Vater sagte, er könne den Nachbarn nicht in die Augen sehen. Sie seien ihr egal, die Nachbarn, antwortete Anna und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. „Jetzt, da ich alt und hässlich bin“, schrieb sie weiter in dem Brief, „dreht es mir das Herz um, wenn ich an meine Eltern denke. Wie hätten sie verstehen sollen? Jahrelang bin ich ein braves Mädchen gewesen.“

Dann zerbrachen ihre Pläne vom freien, rastlosen Leben. Bomben fielen auf Berlin. Jetzt ging es darum, rechtzeitig die Luftschutzkeller zu erreichen, das Haus nach den Angriffen bewohnbar vorzufinden, Nahrungsmittel zu beschaffen, die Bilder und Geräusche auszuhalten. Anna wusste nicht, was schlimmer war, das Dröhnen und Schreien oder die Stille danach. Sie stand in der toten Stadt und wollte doch leben. „Ich sah die ausgebrannten Häuser oder solche, von denen nicht einmal mehr die Fassade stehen geblieben war und dachte tatsächlich in einer ungenierten Weise an die Frau im fliederfarbenen Kleid.“

Die Gesichter der anderen Nachkriegsfrauen sahen müde aus, welk, Anna leuchtete. Federnden Schrittes ging sie zu den Amerikanern, die sie als Übersetzerin einstellten – auch, weil sie gut Englisch sprach. Die Offiziere beschenkten sie mit Zigaretten und Kaffee, den sie weitergab an ihre Eltern, die nicht genau wissen wollten, woher er kam. Sie ließ sich ausführen und tanzte wieder, ihre Kleider wehten, keiner konnte sie länger als einen kurzen Moment in den Armen halten. Einige Episoden dauerten länger als andere, mit manch einem begab sie sich auf Reisen, nach Afrika oder in den Norden, nie aber verlor sie ihre Unabhängigkeit, stets verdiente sie ihr Geld. Und immer beendete sie die Episoden, die Männer blieben zurück, verwirrt und mit gebrochenen Herzen. Aber Anna vergaß, dass sie die Zeit nicht würde aufhalten können. „Ich war nicht mehr jung und schön. Ich war allein.“ Nur selten noch traf sie einen Mann, einen Liebhaber aus alten Tagen, ging mit ihm in ein Café oder ins Theater und dann ohne ihn nach Hause. Einer dieser Männer macht sich jede Woche auf den Weg und gießt die Blumen auf ihrem Grab. Tatjana Wulfert

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