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Antigewalt-Kampagne: Türkischstämmige Frauen sind oft Opfer von Misshandlungen

In der Türkei gibt es zum Frauentag eine Kampagne gegen häusliche Gewalt. Auch in Berlin ist das Thema ein Problem für viele Zuwanderer

Von Sandra Dassler

Die beiden Frauen rannten weinend aus dem Saal – zu heftig waren offenbar ihre Erinnerungen, als eine Polizeibeamtin über häusliche Gewalt gegen Frauen, besonders aus Einwandererfamilien, sprach. Das war Ende November 2012 während der berlinweiten Aktion „Gewalt kommt nicht in die Tüte" in einem Neuköllner Frauentreff, erinnert sich Nesrin Tekin: „Die zwei türkischstämmigen Frauen lebten in Westdeutschland, hatten dort schlimme Verletzungen durch ihre Männer erlitten und mussten, weil sie um ihr Leben fürchteten, nach Berlin fliehen.“

Tekin ist Sozialarbeiterin beim Qualifizierungsprojekt von Tio, dem Treff- und Informationsort für türkischstämmige Frauen, und sie kennt viele, die von ihren Ehemännern geschlagen und misshandelt werden. Die Kampagne der türkischen Behörden zum Frauentag am 8. März, bei der prominente Künstlerinnen in die Rolle geschundener Gewaltopfer schlüpften (der Tagesspiegel berichtete), sei daher auch in Deutschland sinnvoll, sagt sie. Allerdings handele es sich keinesfalls um ein „türkisches Problem“. Schlagende Männer kämen in allen Nationalitäten vor. „In meinem letzten Kurs war beispielsweise eine Vietnamesin, deren Mann ihr die Füße zertrümmert und sie aus dem Fenster geworfen hatte. Und das war ein Deutscher.“

Da der jeweilige Migrationshintergrund nicht erfasst werde, könne man nicht sagen, ob die Zahl türkischstämmiger Frauen in Berlin, die Opfer einer Gewalttat wurden, in den vergangenen Jahren gesunken oder gestiegen sei, sagt ein Polizeisprecher. In Frauenhäusern und bei Beratungsstellen melden sich zwar von Jahr zu Jahr mehr von ihnen, aber dies könne auch daran liegen, dass immer mehr hier leben und immer mehr sich trauen, gegen die Gewalt ihrer Männer aufzubegehren.

Jennifer Rotter von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (Big), die für Betroffene rund um die Uhr eine Telefonhotline anbietet (030 6110300), schätzt, dass etwa ein Viertel der Anruferinnen einen Migrationshintergrund haben. Die meisten von ihnen sprechen Türkisch, dann folgen Arabisch und Englisch.

Die Mitarbeiterinnen der Big-Hotline beraten beziehungsweise vermitteln Beratung in 50 Sprachen, sagt Jennifer Rotter. Während laut einer Studie des Bundesfamilienministeriums etwa 25 Prozent der deutschen Frauen mindestens einmal Opfer von Gewalt werden, sind es bei türkischen Frauen durchschnittlich 37 Prozent.

Der Psychologe Kazim Erdogan, der in Neukölln seit sieben Jahren Väter- und Männergruppen leitet, kennt Statistiken, nach denen in der Türkei sogar 40 Prozent der Frauen von Gewalt betroffen sind. „Warum sollte das in Berlin anders sein?“, fragt er: „Zwei Drittel der türkischen Frauen in Neukölln sind so genannte Importbräute – und die Probleme sind ja hier nicht anders als in der Türkei. Wer arm ist, egal ob an materiellen oder geistigen Dingen wie Bildung, wer keine Perspektiven sieht und vielleicht noch einer Sucht verfallen ist, der neigt dazu, Probleme mit Gewalt zu lösen.“ In seinen Männergruppen versucht Erdogan, friedliche Strategien zur Konfliktlösung zu üben.

Ob in Berlin die Übergriffe gegen türkische Frauen zu- oder abnehmen, lässt sich, so Big-Sprecherin Jennifer Rotter, auch wegen der garantierten Anonymität bei der telefonischen Beratung schlecht sagen. So seien die Zahlen der Gespräche auf türkisch rückläufig, aber das könne auch daran liegen, dass viele Frauen inzwischen Deutsch sprechen. Das führt Rotter auf bessere Integration der Frauen zurück. Bedenklich sei hingegen, dass – im Gegensatz zur Situation vor zehn, fünfzehn Jahren – jetzt viele Frauen nicht nur Probleme mit Gewalt, sondern auch mit psychischen Erkrankungen hätten.

Louise Baghramian, Koordinatorin des interkulturellen Frauenhauses in Berlin, registriert eine verstärkte Nachfrage auch von türkischen Frauen, sieht die Ursache dafür aber eher in einer besseren Aufklärung als in einer Zunahme der Gewalt. „Die Frauen trauen sich zum Glück einfach sehr viel früher, sich zu wehren“, sagt sie.

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