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Berlin: Auf dem Pulverfass

Vor 45 Jahren standen sich am Checkpoint Charlie die Panzer gegenüber. Der US-Militärpolizist Vern Pike erinnert sich, wie er den Konflikt mit entschärfte

Er hat den Mauerbau am Checkpoint Charlie erlebt und so manche Konfrontation mit den Russen. Aber die Ereignisse Ende Oktober 1961 stellen für ihn alles in den Schatten, was Vern Pike als Führer einer Einheit amerikanischer Militärpolizisten während seines vierjährigen Berlin-Einsatzes vor gut 40 Jahren mitgemacht hat. „Da vorne standen die russischen Panzer, und hier standen unsere“, sagt Pike und zeigt an der Friedrichstraße Ecke Zimmerstraße nach links und rechts. Fast 45 Jahre danach steht der sportlich wirkende 69-Jährige wieder an der Kreuzung, an der Weltgeschichte geschrieben wurde. Der Rentner aus North Carolina besuchte kürzlich, wie alle paar Jahre, mit seiner Frau die Stadt, in der er die spannendsten Jahre seines Lebens verbrachte.

„Hier, so sah das damals aus“, sagt Pike und nähert sich einem Foto, das an einer der Stellwände hängt, die entlang der Straße an die Teilung erinnern. Sowjetische und amerikanische Panzer sind darauf zu sehen, deren Kanonenrohre in 200 Meter Entfernung aufeinander zeigen. „Es war später Nachmittag, wir standen vor dem Haus, in dem jetzt das Cafe Adler ist“, erzählt Pike. „Da kamen von Unter den Linden die Panzer angerattert.“ Es war der 27. Oktober 1961. Ein Tag, an dem die Welt nicht sicher war, ob die Spannung zwischen Ost und West eskalieren würde. „Das hätte zum Krieg führen können“, sagt Pike. „Washington protestiert in Moskau“, lautete an jenem Tag die Tagesspiegel-Schlagzeile.

Schon Tage vor der drohenden Eskalation hat sich am international bekanntesten Übergang zwischen den zwei Stadthälften der Konflikt hochgeschaukelt. Die Amerikaner, die sich laut Viermächteregelung frei in der ganzen Stadt bewegen dürfen, fühlen sich durch zunehmende Kontrollen durch die DDR-Volkspolizei schikaniert. Mehrfach erzwingt die US-Militärpolizei für Alliierte und amerikanische Zivilisten freie Durchfahrt am Checkpoint Charlie. Lucius Clay, der Sonderbeauftragte von US-Präsident Kennedy, wirft den Volkspolizisten vor, sie verhielten sich „unverantwortlich und illegal“.

Am 25. Oktober 1961 kocht der Konflikt hoch. Die Amerikaner fahren an der Demarkationslinie, die den amerikanischen Sektor vom sowjetischen trennt, mit acht Panzern auf, um ihrer Forderung nach freier Durchfahrt Nachdruck zu verleihen. Die östliche Seite sieht das als Verletzung der Souveränität der DDR und spricht von Provokation. Die „Berliner Zeitung“ der SED titelt tags darauf: „Laßt das Spiel mit dem Feuer!“

„Das war kurz vorm Explodieren“, erinnert sich Vern Pike. Die US-Garnison ist am 25. Oktober sechs Stunden in Alarmbereitschaft. Es gibt am Kontrollpunkt hektische Wortwechsel mit Vopos, vor allem, als die DDR-Polizisten zwei Bussen mit Amerikanern die Einreise verweigern, da die Amerikaner den ostdeutschen Kontrolleuren ihre Ausweise nicht zeigen wollen. Zusätzliche Unruhe lösen an diesem Tag Berichte aus, nach denen die Russen unangekündigte Atombombenversuche in der Arktis durchführen.

Am 26. Oktober, nach weiteren Auseinandersetzungen, fahren die Amerikaner noch mehr Militär auf. 14 Panzer stehen den ganzen Tag über mit laufenden Motoren am Checkpoint. Immer wieder fahren US-Militärs und Zivilisten demonstrativ in den Ostteil. Dort wartet man ab. Tags darauf warnt die „Berliner Zeitung“ die Westalliierten vor „neuen Übergriffen“. Der 27. Oktober, der Tag, an den sich Vern Pike besonders gut erinnert, bringt die Welt näher an einen neuen Krieg als lange zuvor. Und er bringt Militärpolizist Pike zu einem seiner waghalsigsten Einsätze. „Sieben Panzer sind am späten Nachmittag da drüben aufgefahren“, sagt der Amerikaner und zeigt auf die östliche Seite des einstigen Kontrollpunktes. Da die Panzer der Gegenseite keine eindeutigen Markierungen haben, wissen die Amerikaner nicht, wer ihnen gegenübersteht. Sind es die Russen, die offiziell gar nicht für die von der DDR-Volkspolizei kontrollierte Grenze zuständig sein wollten? Oder sind das DDR-Panzer, deren Auftauchen gegen die Viermächteregelungen verstoßen hätte? „Das wäre ein Kriegsgrund gewesen“, sagt Pike.

Da die Amerikaner es ablehnen, direkt mit den Vopos zu reden, begibt sich Vern Pike in dem Chaos auf eine abenteuerliche Erkundungstour. „Ich fuhr mit ein paar Kameraden im Jeep rüber und ließ mich direkt hinter einem Panzer absetzen, wo mich in der Dunkelheit keiner sah“, erinnert er sich. „Als ich mich dem Panzer näherte, merkte ich, dass niemand drin saß.“ Also klettert der Amerikaner in das feindliche Gefährt. „Drinnen war alles in kyrillischer Schrift ausgeschildert – es waren also Russen.“ Beim Aussteigen hört er neben dem Panzer Soldaten sprechen – Russisch. Mehr Bestätigung braucht er nicht. Vern Pike springt in den Jeep seiner Kameraden, und sie brausen zurück in den Westteil, um dort zu berichten, dass in der Tat die Russen hier aufgefahren sind.

16 Stunden lang stehen sich in der Nacht auf den 28. Oktober die Panzer gegenüber. „Eine quälend lange Zeit“, wie sich Pike erinnert. Erst Sonnabend geben die Sowjets nach. Gegen 10.30 Uhr ziehen sie ihre Panzer ab. Gegen Mittag rufen auch die Amerikaner ihre Panzer zurück. Damit ging eine der größten militärischen Zuspitzungen der Nachkriegsjahre überraschend unspektakulär zu Ende, wie sich Pike noch immer wundert. „Heute ist das hier alles eine riesige Touristenfalle“, sagt der einstige Soldat mit abwertendem Blick in Richtung des nachgebauten Kontrollhäuschens, vor dem Touristen sich mit Schauspielern in Militäruniform fotografieren lassen. Aber er sagt auch, dass es ihn sehr bewegt, hier zu stehen: „Das bringt die alten Gefühle wieder hoch.“

Gedenkveranstaltung mit Veteranen der US-Armee heute, 11 Uhr, im Mauermuseum am Checkpoint Charlie

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