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Berlin: Auf den Leim gegangen

Klebekunst statt Graffiti: Street-Art-Künstler verzieren Häuserwände mit Collagen aus Papier und Pappe

Das Werk ist ganz neu. Der Kleister an der Wand glitscht, schmiert und läuft den Putz hinunter, auf dem bunte Bilder kleben. Der Urheber muss die Fläche gerade erst zugepappt haben. Es bietet sich ein durchaus interessanter Anblick: Hier fliegt ein Mann durch die Gegend, einen Ball auf seiner Hand balancierend, dort schwebt ein kleiner Bär, das Maul weit aufgerissen. Daneben starrt ein riesiges Augenpaar den Betrachter an.

Was hier in der Friedrichshainer Simplonstraße zu sehen ist, lässt sich an immer mehr Ecken Berlins und ganz besonders in Prenzlauer Berg, Mitte und Kreuzberg entdecken. So genannte Street-Art-Künstler verändern das Straßenbild mit ihren Motiven aus Papier. Es sind fein säuberlich gestaltete Collagen, die in verschiedenen Schnitttechniken entstehen: von winzig klein bis menschengroß.

Manch Anwohner mag sich darum derzeit wundern, wenn im Hauseingang plötzlich eine riesige Papierameise lauert oder ein aufgeklebter Mann im Muskelshirt den Revolver zieht. Angefangen hatte das „Sticker-Bombing“, das Kleben kleiner Motive, sowie das Auftragen größerer Formate vor etwa zwei Jahren. Derzeit erlebt die Street-Art allerdings einen Höhepunkt. Ganze Straßen wie der Bereich rund um die Simon-Dach-Straße sind mit kunterbunten Motiven übersät und zum Kunstparcours geworden. Aber auch ganze Hauswände sind mit den Klebearbeiten übersät.

Die Ausstellung „Backjumps“ der gleichnamigen Graffiti-Zeitschrift um Initiator Adrian Nabi hat der Street-Art offenbar einen kräftigen Impuls versetzt. Sie lockte vor einem halben Jahr über 30 internationale Street-Art-Künstler nach Berlin, einige blieben über Wochen hier und hinterließen sichtbare Spuren. So wie Obey aus L.A. oder die New Yorkerin Swoon. Viele der Berliner Künstler kommen aus der Graffiti-Szene, haben die Farbdose gegen die Schere, Pinsel und Kleister getauscht. In den 90er Jahren wurde das zunächst in New York zum Trend, weil, wie ein Klebe-Aktivist berichtet, die Polizei hart gegen Graffiti-Sprüher vorging.

Auch in Deutschland wird derzeit über ein neues Anti-Graffiti-Gesetz verhandelt. Momentan müssen die Sprayer nur mit einer Verurteilung rechnen, wenn die „Substanz“ einer Fläche beschädigt wird. Nach dieser Gesetzeslage könnten die Klebekünstler auf mildere Urteile hoffen – sie müssen nur auf den richtigen Kleister achten. Denn wie formuliert es ein Sprecher der Berliner Polizei? Am Ende sei entscheidend, ob ein Klebstoff eine Substanzveränderung erzeuge. Sprich: Sekundenkleber wirkt strafverschärfend. Sollten die Gesetze verschärft werden, dann spielt aber auch das keine Rolle mehr. Da soll es schon eine Strafe setzen, wenn nur das äußeren Erscheinungsbild „gegen den Willen des Eigentümers nicht unerheblich“ verändert wurde – egal ob mit der Farbe aus der Dose oder mit den Collagen und Tapetenleim.

Jens Thomas

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