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Grüßt euch, Genossen: Werner Schulten und Winfried Rietdorf im LinksTreff der Linkspartei in Berlin-Wedding.

© Björn Kietzmann

Auf den Spuren des "Roten Wedding": Liebe, Schnaps und Revolution

"Links, links, links - der Rote Wedding marschiert." So die Parole der 30er Jahre. Was aber ist heute noch davon übrig? Unser Autor hat sich auf die Suche gemacht und ein paar unermüdliche Genossen gefunden.

Ob man bitte darauf achten könne, sagt Werner Schulten von der Linkspartei, dass auf dem Foto auch die Anti-Atomkraft-Fahne zu sehen ist, schließlich sei man eine moderne Partei, „und sonst sind nachher nur die Alten auf dem Bild“. Er zuppelt an der Fahne, rechts sitzt Winfried Rietdorf, ebenfalls Linkspartei, links sitzt Schulten. Über ihm guckt Karl Marx hinter Glas von der Wand, über Rietdorf eine Ahnentafel von Kommunisten, die von den Nazis erschlagen wurden. Das sind die Alten. Und in der Mitte die gelbe Anti-Atom-Flagge, man könnte sagten: die Mittelalte. Gruppenbild mit Öko-Fahne – besser so, findet Schulten. Auf den Spuren des „Roten Wedding“ ist alles eine Frage der Perspektive.

Ein Mittwochnachmittag im „Linkstreff“, Malplaquetstraße, Publikumsverkehr. Einmal wöchentlich lädt man hier zur „Bürgerberatung“, die Nachfrage ist groß, sagen sie. Vier Rechtsanwälte teilen sich die Schichten, prüfen die Bescheide der Jobcenter, helfen bei Widersprüchen. Im Vorderraum sitzen sie dann und warten, warten auf den Anwalt, der an diesem Mittwoch braungrünes Jackett mit Ellenbogenflicken trägt.

Eine Zweizimmerwohnung hat der mittelalte Mann, der jetzt im Nebenzimmer sitzt, für die das Jobcenter die Betriebskosten nicht zahlen will. „Da sollten Sie Widerspruch einlegen“, sagt der Anwalt. „Ja, mach ich immer“, sagt der Mann, „das ist gut“, sagt der Anwalt, und dass der Bescheid des Jobcenters eine geänderte Gesetzeslage nicht berücksichtige. Längst hat sich herumgesprochen, dass die Bescheide der Jobcenter oft falsch sind. Fast jeder zweiten Klage werde teilweise oder ganz stattgegeben, ergab dieses Jahr im Mai eine Anfrage der Linkspartei im Bundestag.

Das ist die Basis, von der auch die Linkspartei rund um den Leopoldplatz zehrt. „Wir sind die Kümmererpartei im Kiez“, sagt Schulten. Die Linkspartei als Anwalt der Deklassierten? Sie sehen das hier gerne so, natürlich. Und tatsächlich haben nirgendwo in den Westteilen der Stadt mehr Menschen bei der letzten Bundestagswahl links gewählt als im Wedding: 17 Prozent waren es, aber in den Wahllokalen rund um den Leopoldplatz sogar 22, sagt Schulten.  

Das ist nicht Volkspartei, aber dennoch ein gewichtiges Wort. Und gemessen an der Vergangenheit ein Witz.

30 Tote, 200 Verletzte: Blutmai im Wedding

Es gab Zeiten, da haben knapp 40 Prozent der Wahlberechtigten im Viertel für die KPD gestimmt. Zum Beispiel in der Gegend rund um die Kösliner Straße, die Keimzelle des „Roten Wedding“: Im Jahr 1929 eine enge Straße, bekannt als die „rote Gasse“, voller Mietkasernen, miserable Zustände, 2500 Menschen in 24 Häusern. Hochburg der KPD.

Eine Straße auch, an der sich die Spaltung der Arbeiterbewegung erzählen lässt. Als hier die Kommunisten im Jahr 1929 das Demonstrationsverbot zum 1. Mai ignorieren, schickt die regierende SPD die Polizei. Bewaffnet. Am Ende wird sie nach dreitägigen Unruhen rund 11.000 Schuss Munition abgegeben, dabei über 30 Menschen getötet und fast 200 verletzt haben. Das ist der „Blutmai“, die „Schande der SPD“, wie es dann im Lied „Roter Wedding“ heißen wird: „Links, links, links. Die Trommeln werden gerührt. Links, links, links. Der Rote Wedding marschiert“ – so war das damals.

Und heute? Wer den roten Wedding sucht, findet ihn in den Kneipen, bevorzugt in denen mit linker Geschichte. Oder etwa nicht? „Ach, nein, für mich ist der Wedding bunt“, sagt die junge Frau hinterm Tresen im „Café Kralle“, ein Laden Ecke Leopoldplatz. Vor 35 Jahren gegründet, aus frauenbewegten Zeiten und Motiven, und immer noch bis heute geführt als Kollektivkneipe, ausschließlich von Frauen. Damals als Mittagstisch für alleinerziehende Mütter gegründet, um die Frauen im Viertel zusammenbringen, sagt die Tresenfrau, eine Soziologiestudentin Anfang 20. Die Küche gibt es längst nicht mehr, dafür darf geraucht werden, das eine schließt das andere aus, so sind mittlerweile die Gesetze.

Aus dem Handy tönt „The sound of da Police“

Ein Abend gegen halb zehn, die Gespräche gedämpft, Pink Floyd aus den Boxen, „Wish you were here“, dann Bob Marley, perlender Reggae. Studentenmusik, die immer leicht ins Schwärmerische abgleitet. Die alten Zeiten im einstigen Arbeiterviertel, das heute oft auch ein Arbeitslosenviertel ist, sie sind vorbei. „Wer soll das Lied vom ‚Roten Wedding’ denn auch singen?“, fragt die Mitbewohnerin der Bardame, auch sie am Tresen, auf der anderen Seite.

„Liebe, Schnaps und Revolution“, die Inschrift auf dem Banner an der Wand, aus dem Hinterzimmer tritt eine weitere Frau heran. Dass Flüchtlinge willkommen seien, steht auf ihrem Pulli, „The sound of da Police“ klingelt es aus dem Handy, der alte Rapklassiker, „that's the sound of da beast“ lautet die nächste Zeile.

Ach ja, die Polizei, ritueller Gegner der Linken, auch, oder vielleicht erst recht, wenn sie zu singen anfangen. Auch, oder vielleicht erst recht, wenn sie es im Wedding tun.

An diesem Abend aber singen sie gar nicht. Sondern sind vor dem Café Kralle vorgefahren, und dann hinein in eines der Cafés auf der anderen Straßenseite. Eine Streife, eine Wanne und einer dieser betont unauffälligen Wagen, bei dem sich immer die Frage stellt, warum die Polizeiführung nicht gleich „Drogenfahndung“ auf die Türen druckt. Sie schätzen das Überraschungsmoment – und fahren Toyota-Landrover mit Reling und Reserverad an der Heckklappe. „Was wir suchten, kann ich nicht verraten“, sagt der Polizist. „Aber dass wir es gefunden haben, das schon.“ 

Und so steigen sie ein und die Straße leert sich. Genauso wie das frisch durchsuchte Café, aus dem ein paar Minuten später die Betreiber durchaus hektisch die Gerätschaften herausräumen, ab auf die Ladefläche eines Transporters und weg.

Selbst Rio Reiser dichtete im Wedding

Weddinger Direktmandat: Eva Högl (SPD) aus dem Sprengelkiez wurde im September in den Bundestag gewählt
Weddinger Direktmandat: Eva Högl (SPD) aus dem Sprengelkiez wurde im September in den Bundestag gewählt

© Thilo Rückeis

Also weiter, ab in die „Barrikade“, Ecke Pankstraße, noch so ein Laden mit Geschichte: Auch hier ist man seit 35 Jahren zugange, es muss ein gutes Jahr gewesen sein, um linke Kneipen zu eröffnen. Einstiger Promi-Gast in der Barrikade: Rio Reiser, legendenumgürtet, Sänger von Ton Steine Scherben. Und so mag der „Rauch-Haus-Song“ zwar von einer Hausbesetzung am Kreuzberger Mariannenplatz erzählen, geschrieben aber hat Reiser das Lied in der Barrikade. Das weiß man hier genau, am Tresen, am späteren Abend, als die Luft längst so schneidend ist, als hätte Che Guevara persönlich die komplette Jahresproduktion einer Trinidad-Zigarrenplantage in den Raum gepustet.    

Aber weil Tote nicht rauchen, hängt er goldgerahmt hinter Glas an der Wand, und um den Rauch in der Luft müssen sich die Gäste persönlich kümmern. Sie tun es mit großem Einsatz, Männer-Frauen-Verhältnis etwa 10 zu 1, abgehangener Blues aus den Boxen, „Sweet home chicago“, später Motörhead.  Über der Bar die Getränkekarte: ein vielleicht zwei Quadratmetergroßer Aushang, eine ganze Spalte nur mit Schnaps, dazu zwei schwerstbewaffnete Frauen. Die mit dem roten Tuch vor dem Mund hat die Flinte umgeschnallt, in der Hand eine Dynamitstange, die andere Frau das Gewehr im Anschlag. Vor den Damen auf dem Boden die kugelrunde Bombe, Anarchisten-Style, wie herausgepurzelt aus Zeiten, in denen Komödien wie „Viva Maria!“ die Leute zum Lachen brachten.

Roter Wedding? Alles eine Frage der Perspektive, hier und heute: der blaue Wedding. Blau wie das Gemüt des Herren in Leder, der am Tresen lehnt, ein Kurzer und ein Bier, und noch ein Kurzer und noch ein Bier. „Natürlich haben wir uns hier gefreut, dass die FDP aus dem Bundestag geflogen ist“, hatte ein paar Tage zuvor die Frau hinterm Tresen gesagt. „Und ich würde schon sagen, dass es den Roten Wedding noch gibt. Aber er ist am Wanken“ – und wie als Beweis schlingert nun ein Gast zur Tür, einmal durchlüften, bitte, dann wieder zu.

Und gleich wieder auf, die Barrikade als Taubenschlag, denn nun kommen die fliegenden Händler. Möchte jemand einen Mantel kaufen, für vierzig Euro das Stück? Oder einen Winterpulli, schön dick, wenn die Tage kälter werden? Niemand. Er zieht davon, und was bleibt, ist der Radikal-Chic dieser Tipptopp-Kaschemme.

Wer aber wissen will, wie die Gäste einer Kneipe wirklich ticken, der muss auf die Toiletten gehen und die Aufkleber und Sprüche an den Wänden betrachten. In der Barrikade: Hinweise auf Antinazi-Demos, 1. Mai und Solidarität. Linke und Linkere. Auch die Kneipenleitung hat einen Hinweis hinterlassen: „Bitte nicht reinkotzen“ steht über dem Pissoir. Alles klar.

Eva Högls linke Seite

Tage später, jenseits der Kneipen, ein Treffen mit Eva Högl von der SPD, direkt gewählte Bundestagsabgeordnete für Berlin-Mitte, also auch für den Wedding. Seit einiger Zeit wohnt Högl in einer Eigentumswohnung im Sprengelkiez, mitten drin. Und nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Restaurant, in dem die SPD ihren Stammtisch abhält, einmal monatlich, im Schnitt mit etwa 20 Besuchern, in letzter Zeit auch schon mal mit 50. Wie sieht’s denn aus, im Viertel? „Die sozialen Probleme sind hier offensichtlich“, sagt die Bundestagsabgeordnete, einigen Menschen würde es „eindeutig nicht gut gehen“, arbeitslos, in vielen Fällen schon länger, dazu Jugendliche ohne viel Hoffnung auf Ausbildung und Beschäftigung.

Zwar habe sie auch einmal darüber nachgedacht, eine Rechtsberatung in ihrem Büro anzubieten, sich schließlich aber dagegen entschieden. Stattdessen verweist sie auf die Rechtsberatungen der Gewerkschaften, der Arbeiterwohlfahrt und der Nachbarschaftstreffpunkte. Und Hartz-IV? „Ich spreche regelmäßig mit dem Leiter des Jobcenters“, sagt sie, „und in Einzelfällen schreibe ich auch mal einen Brief.“

Ob man bitte darauf achten könne, dass bei dem Foto ihre Schokoladenseite im Bild zu sehen ist, fragt Eva Högl dann und dreht das Gesicht. Wenn man Högl fotografiert, dann zeigt sie den Menschen am liebsten die linke Seite. Von ihr aus gesehen ist es die rechte.

Alles eine Frage der Perspektive, im Wedding, der einmal rot war.

Dieser Artikel erscheint im Wedding Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegel.

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