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Berlin: Auf Landgang im Tegeler See

Früher diente Valentinswerder gut situierten Berlinern als Refugium. Heute schaut ein Inselwart nach Residenzen in verwilderter Natur – und erzählt Gästen Geschichten über die Geschichte

An heißen Sommertagen wirbelten die Pferdekutschen Staub auf, wenn sie von der Fähre auf die Insel fuhren. Die Tiere trabten entlang der schattigen Alleen, über das grüne Heckenrondell in der Inselmitte, bis zu den Residenzen. Hochherrschaftliche Häuser, gepflegte Gärten und romantische Buchten machten dieses Eiland inmitten der preußischen Großstadt zu einem beliebten Wochenenddomizil für gut situierte Berliner.

Heute ist es der kleine grüne Traktor von Inselwart Andreas Reuter, der auf Valentinswerder Sand aufwirbelt. Reuter wohnt seit zehn Jahren auf der geschichtsträchtigen Insel im Tegeler See. Früher gab es auf der Insel ein bekanntes Café – das „Golf von Neapel“ – und an den Wochenenden feierten feine Herrschaften Feste oder vergnügten sich an der frischen Natur. Mit Hut und Gehstock flanierten sie die Alleen entlang. Heute sind viele Wege verwachsen, Stadtvillen durch den Krieg zerstört und von Laubenhäuschen ersetzt. Dennoch hat Valentinswerder seine Anziehungskraft nie verloren.

Den besonderen Charme der Insel haben schon dereinst Bewohner geschätzt. Nur hat er ihnen nicht immer Glück gebracht. Von einem der Erstbesitzer und Namenspatron der Insel, dem Bauernsohn Valentin Lemke, erzählt man, er habe eines Abends Ende des 18. Jahrhunderts seinen selbst gebrannten Schnaps zu sehr genossen, sei ins Wasser gefallen und ertrunken. Wenige Jahre danach ereilte Lemkes Sohn das gleiche Schicksal. Auch viele bekannte Zeitgenossen lebten auf der Insel, die längst nicht alle Berliner kennen.

Mitte des 19. Jahrhunderts lebte Hofopernsänger Heinrich Blume dort und ließ sich von der reichen Naturkulisse beflügeln. Das Publikum kam jedoch oft nicht in den Genuss seiner Kunst: Bei schlechtem Wetter verspätete sich Blume oft. Das missfiel Opernliebhaber Friedrich Wilhelm III.. Kurzerhand überließ er Blume sein Jagdhaus in Saatwinkel – später bekannt als Blumeshof. Damit hatte auch für den Hofopernsänger das fröhliche Inselleben ein Ende.

Insgesamt sieben permanente Bewohner zählt Valentinswerder heute. Die Verbindung zur Außenwelt gewährleistet die Fähre Odin IV, die stündlich nach Saatwinkel, Tegelort und Hakenfelde fährt. Nach Sonnenuntergang springt Inselwart Andreas Reuter mit seinem kleinen Motorboot auch gerne einmal ein. Ansonsten hilft der 48-Jährige den Insulanern bei Problemen an Haus und Hof, kümmert sich um die Natur und hält die Häuser seines Arbeitgebers in Schuss. 95 Prozent der Insel gehören einem Bremer Unternehmer. Er ist Urenkel des Bauunternehmers Paul Haberkern, der in den 1870ern die Insel kaufte und zur Villenkolonie ausbaute. Zwischen den Residenzen schuf er Alleen und das romantische Heckenrondell in der Inselmitte, das selbst an schwül-heißen Sommertagen feinen Damen Schatten und Frische bot. Sein Nachfahr auf Valentinswerder knüpft an diese Visionen an. Grünanlagen werden erneuert, kranker Baumbestand gefällt und neue Hecken gepflanzt. Auch ein Café – mit dem hübschen Namen „Südstrand“ – soll es wieder geben.

Verglichen mit Valentinswerder hält das nahe gelegene Tegelort immer noch einen tiefen Dornröschenschlaf. Dabei tobte hier in den Goldenen Zwanzigern das Leben: Die Gaststättenkolonie Tegelort war bis über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Damals legten Ausflugsdampfer im Stundentakt an den Tegelorter Landungsbrücken an und Musikkapellen spielten für die Ausflügler. Auf der Seepromenade hatten Gastwirtschaften ihre Biergärten geöffnet, aus den Räumen klang Musik, die Vögel zwitscherten im Takt dazu. In den Lokalen selbst luden Kegelbahnen und Tanzböden zu vergnüglichen Feiern ein.

Nach den Wirren des Krieges verlagerte sich das Zentrum der Ausflugsregion Tegeler See in den Norden. Heute sprudelt die Greenwichpromenade in Alt Tegel vor Lebendigkeit. Wochenendausflügler besteigen die Dampfer, flanieren entlang der Allee, über die knallrote Sechserbrücke und genießen die Sonne in den Biergärten und Cafés.

Nur eine Spazierstunde entfernt schlendert Andreas Reuter über Valentinswerder und horcht in die stille Natur. Die Vielfalt Berlins – sie könnte kaum sichtbarer sein als am Tegeler See.

Vivien Leue

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