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Berlin: Augen zu und durch

Wie Berlin aussieht, ist bekannt. Aber wie klingt die Stadt? Eine spezielle Führung will das verdeutlichen.

Eva Porizkova zeigt Schlafwandlern die Stadt. Im Foyer der Akademie der Künste am Pariser Platz warten 20 Frauen und Männer darauf, Berlin zu erleben, ohne etwas zu sehen: „Gehörte Stadt“ lautet das Motto. Schwarze Schlafbrillen bedecken die Augen der Teilnehmer, jeder bekommt einen Stadtführer zur Seite und hakt sich unter. Eva Porizkova soll nicht mit dem Geführten sprechen, sie gibt nur knappe Anweisungen. „Stopp!“, sagt Eva. Oder: „Vorsicht, Stufe“.

Als sich am Hinterausgang der Akademie die Schiebetür mit einem Surren öffnet, brummen Motoren, es riecht nach Benzin, an der Fußgängerampel ist das Signal für Blinde zu hören. „Berlin ist voller Geräusche“, sagt Thomas Bruns: „Aber welche produziert die Stadt zufällig und wo beginnt die Kunst?“. Bruns ist Geschäftsführer von Ohrenstrand, das die Führungen „Gehörte Stadt“ anbietet. Das Projekt finanziert sich aus Mitteln der Kulturstiftung des Bundes und der Kulturverwaltung Berlins. Anfangs führten Blinde die Teilnehmer über das Pfefferberg-Gelände in Prenzlauer Berg und erklärten ihnen, wie sie die Stadt erleben, das Projekt wurde längst ausgeweitet.

Die Geführten haben die Straße überquert, die Geräusche lassen nach. „Achtung, hier wird’s eng“, sagt Eva Porizkova. Wer vorsichtig den Arm ausstreckt, fühlt, dass kühle, glatte Wände den Weg säumen, es geht leicht abwärts, die Schritte der Teilnehmer hallen. Nach wenigen Minuten wird das Rauschen wieder deutlicher, die Gruppe geht an Passanten vorbei, Sprachfetzen hängen in der Luft, Spanisch, Russisch, Berlinerisch: „Ick hab se alle druff“, sagt einer, der offenbar fotografiert hat. Eva Porizkova wird später sagen, die Berliner hätten auf 20 Schlafwandler erstaunlich gelassen reagiert.

Es geht weiter, aber wohin? Ein Springbrunnen plätschert, unter den Füßen rattert die U- oder S-Bahn vorbei. Dann knirschen kleine Steine und Sand. Kurz darauf ändert sich die Umgebung wieder, ist es Unter den Linden oder doch die Friedrichstraße? Eva Porizkova führt eine leichte Anhöhe hinauf, es hallt wie in einem Raum mit niedrigen Decken. Hier sind keine Menschen, auch der Verkehr scheint weit entfernt. Es riecht nach Zement, plötzlich knackt und rauscht es: Ein Lautsprecher? Oder Musik? Wieder auf der Straße geht die Gruppe über einen weichen Teppich, eine Tür öffnet sich, warme Luft strömt den Teilnehmern entgegen, die meisten haben die Orientierung längst verloren. Jemand spielt Klavier, Gläser klirren, und Gespräche summen durch die Luft, aber so leise, dass einzelne Worte nicht zu verstehen sind, offenbar eine vornehme Umgebung.

Eva Porizkova hält die nächste Tür auf, nun riecht es nach Leder und Parfüm, der Boden ist glatt, fast rutschig. Ein Gong, eine Rolltreppe – es muss ein Kaufhaus sein, aber nicht Dussmann, denn im Untergeschoss duften Käse und Brot. Dann lässt der Geruch nach, es kommen weniger Leute vorbei. Am Ende eines langen Gangs geht es mit der Rolltreppe wieder zurück auf die Straße. „Jetzt noch drei Stufen“, warnt Eva Porizkova. Die Teilnehmer setzen sich, eine Weile rauscht und hallt ein Blechbläser, quietscht ein Bogen und stampfen Füße. Man erahnt eine Bühne, aber die Töne klingen fremd für einen Konzertsaal. Die Gruppe zieht die Schlafbrillen ab: Drei Musiker des Kammerensembles Neue Musik Berlin spielen auf der Geige, der Tuba und dem Saxofon. Sie erklären ihr Programm: An verschiedenen Orten in Berlin, auch am Pariser Platz, haben sie Geräusche aufgezeichnet und ahmen sie nun auf den Instrumenten nach. Die Idee zu dieser Musik hatte der amerikanische Komponist Alvin Lucier, das Werk heißt „(Berlin) Memory Space“. Als die Gruppe an diesem Tag auf die Charlottenstraße tritt, klingt Berlin nach Rufen und Schritten, nach dem Rauschen des Windes – und besonders nach Reifen auf feuchtem Asphalt. Sophie Crocoll

„Gehörte Stadt“, Tickets kosten fünf Euro (Kinder frei). Anmeldung erforderlich unter info@ohrenstrand.net oder Telefon unter 24749870. Den Treffpunkt für die etwa 90-minütigen Touren erfahren Interessierte bei der Buchung. Details im Netz unter www.ohrenstrand.net

Die nächsten Touren: Am 7. Dezember, 19 Uhr, durch Charlottenburg. Am 14. Dezember durch Mitte .

Sophie Crocoll

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