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Mahlzeit. Die Türken seien besser integriert als Bundestagsabgeordnete, sagte Franz Müntefering (SPD) im „Zitty“-Interview – und löste damit eine Debatte aus. Müntefering wohnte vier Jahre lang im Graefekiez in Kreuzberg.

© picture-alliance/ dpa

Aus dem Leben eines Bundestagsabgeordneten: Verbindung zum Volk sieht anders aus

Sie sind immer irgendwo unterwegs und führen einen Terminkalender am Rande des Nervenzusammenbruchs: Bundestagsabgeordnete. Franz Müntefering ist einer von ihnen und meint, sie seien schlechter integriert als ein Türke in Kreuzberg. Stimmt das?

Sie sind nur 620, und sie haben einen Vierjahresvertrag in Berlin. Dann stimmt der Souverän in Bottrop oder Ravensburg über ihr weiteres Schicksal ab – geht alles gut, dürfen sie weitere vier Jahre in Berlin Politik machen, wichtig sein und einen Terminkalender immer am Rande des Nervenzusammenbruchs führen. Doch was haben die Bundestagsabgeordneten, die nicht ohnehin in der Hauptstadt leben, mit dieser Stadt überhaupt zu tun?

Franz Müntefering, SPD-Abgeordneter seit 1975, hat darauf jetzt ein Schlaglicht geworfen. In einem „zitty“-Interview wurde er gefragt, wer denn besser integriert sei in die Stadt: ein Kreuzberger Türke, der nur Heimatfernsehen gucke, oder der durchschnittliche Bundestagsabgeordnete. Seine Antwort: Der Türke. „Man ist immer wie auf Montage, unterwegs irgendwo“, sagt Müntefering. Ein typischer Wahlkreisabgeordneter sei immer sehr mit diesem Wahlkreis verbunden, telefoniere die Hälfte der Zeit mit zu Hause. Der Bundestag, so meint er, sei schon ein eigenes Viertel, „ich sage ausdrücklich nicht Ghetto“.

Normale Berliner sagen das manchmal ausdrücklich schon. Sie haben den Eindruck, dass der gesamte Politikbetrieb des Bundes gegen sie abgeschottet ist, offiziell aus Sicherheitsgründen, versteht sich. Aber könnte es sein, dass viele, die in der Enklave einsitzen, das auch wieder ganz gut finden so? Dass sie die Abschottung vom Bürger, der nicht auch ihr Wähler ist, ebenso genießen wie der Chirurg, der die aufgeregten Angehörigen aus dem Operationssaal aussperren darf?

Als Berlin damals neu gebaut wurde nach der Wende, da knüpften sich Erwartungen ohne Ende an das Eintreffen der „Bonner“. Man plante ganze Wohnquartiere für sie wie das „Moabiter Werder“, zankte mit den Berliner Mietern ehemaliger Alliierten-Wohnungen über die Befristung ihrer Verträge für den Fall, dass Bundesbedienstete nun in Massen Obdach begehrten – und natürlich Vorrang genossen hätten. Aufwendige gastronomische Konzepte wurden entwickelt, Millionen von Fördergeldern versickerten in edlen Lokalen wie dem „Lindenlife“, das als Kommunikationszentrale und zweite Heimat weinseliger Parlamentarier gedacht war und sich dann doch als unnütze Kopfgeburt herausstellte.

Verschwunden ist das anspruchsvolle Restaurant im Bauch der Bundespressekonferenz, verschwunden ist das ranschmeißerische „Kanzlereck“. Und selbst Friedel Drautzburg, der bestens vernetzte Exil-Bonner und Wirt der „Ständigen Vertretung“, gibt zu, dass in seinem Lokal die heimwehkranken Politikbetriebler längst von schnöden Touristen verdrängt wurden. Was so viel heißt wie: Die Erinnerung an das Alltagsleben der Bonner Republik ist weitgehend erloschen.

Verbindung zum Volk sieht anders aus.

Dabei reicht der Aktionsradius der Politiker heute trotz Großstadt keineswegs weiter – im Normalfall bestenfalls bis zu „Butter-Lindner“ in der Wilhelmstraße oder ins „Einstein“ Unter den Linden. „Ich habe es in den 14 Berliner Jahren noch nie auch nur bis zur Museumsinsel geschafft, obwohl das nur ein paar Minuten Fußweg sind“, bekannte Jörg van Essen von der FDP dieser Tage in einem Interview.

Für zusätzliche Abschottung sind die gedämpften Limousinen des Bundestags-Fahrdienstes da und transportieren ihre Schutzbefohlenen ins „Borchardt“ oder den „Grill Royal“, wo auch immer die Karawane der Mover und Shaker dieser Republik gerade haltmacht. Verbindung zum Volk sieht anders aus, auch wenn Angela Merkel manchmal bei Ullrich in der Wilhelmstraße einkauft, im Umkreis der Edel-Platte, in deren Apartments schon viele Politiker ihre einsamen Abende verbracht haben – die es offiziell nicht geben darf, weil Politiker immer von Freunden umgeben zu sein haben, politischen zumindest.

Umweltminister Peter Altmaier hat sich kürzlich ein bisschen bekannt, als er sagte, „der liebe Gott hat es so gefügt, dass ich unverheiratet und allein durchs Leben gehe.“ Durch Berlin scheint er allerdings nur selten zu gehen, das ist das Los des Vielbeschäftigten. Der Sauerländer Müntefering, der nicht mehr für den Bundestag kandidiert, ist dagegen offenbar in Berlin angekommen. Er gibt sich vertraut mit dem Graefekiez, in dem er vier Jahre gewohnt hat, kennt das „Casolare“ und die „Mädchen ohne Abitur“. Bleibt er? Kann sein, sagt er im Interview, nennt Herne und Bonn als Alternativen.

Jörg van Essen lässt diese Frage auch offen. „Ich habe nach dem Ausscheiden aus der Politik genug zu tun und behalte auch meine Wohnung in Berlin“, verspricht er. Notfalls kann er sie sicher einem Fraktionskollegen vermieten, wenn der seinen Vertrag für vier Jahre Berlin unterschrieben hat.

Das komplette Interview lesen Sie in der aktuellen „zitty“, 3,50 Euro im Handel.

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