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Berlin: Ausgehverbot am Heiligen Abend aufgehoben

Weihnachten 1945: Schwarzmärkte, beheizte Theater und alliierte Anordnungen – was der Tagesspiegel vor 60 Jahren berichtete

Heiligabend 1945 – das erste Friedensweihnachten. Kärglich, aber mit Menschen, deren Glück es ist, noch einmal davon gekommen zu sein – Mütter, Kinder, alte Männer. Flüchtlinge, Vertriebene ohne Heimat. „Millionen Tränen werden in dieser Nacht geweint, Tränen der Trauer um liebe Menschen, die nicht wiederkehren, Tränen der Sehnsucht nach denen, die so fern weilen und noch nicht heimgefunden haben“ – so beschreibt Propst Grüber die Stimmung in der Trümmerwüste Berlin. Doch es gibt Tröstliches: „Kein ängstliches Warten mehr auf Sirenenheulen, kein Feuersturm, der mit seinen Schrecken gespenstig den Winterhimmel erleuchtet.“ Nach sechs Kriegsjahren endlich Frieden in der seit dem 8. Mai in vier Sektoren geteilten Stadt. Probst Grüber predigt in der geheizten Marienkirche. Das Wetter ist mild, vorwiegend trocken. Im Abendprogramm des Berliner Rundfunks spielen sie Händels „Messias“, um 0.00 Uhr erklingt Turmmusik.

Der Tagesspiegel erscheint am 24. Dezember 1945 zum ersten Male mit zehn Seiten, ansonsten mit vier. Was erfahren wir aus dem kargen Lokalteil über die Stimmung zum Fest? Oberbürgermeister Dr. Werner grüßt alle Berliner: „Ich freue mich, die Bevölkerung unserer lieben Stadt Berlin am diesjährigen Weihnachtsfest erstmalig wieder in der Geborgenheit des Friedens zu wissen.“ Sieben Monate Frieden – da ist „Berlin gesünder“ schon eine wichtige Nachricht: „Typhus und Paratyphus sind von 950 Fällen in der ersten Oktoberwoche auf 299 Erkrankungen in der zweiten Dezemberwoche zurückgegangen. 102 Fälle davon waren durchreisende Flüchtlinge.“

Aus dem Communiqué Nr. 22 der Alliierten Kommandantur erfahren wir, dass das Ausgehverbot ab 24. Dezember aufgehoben wird, „diese Aufhebung wird jedoch zu jeder Zeit widerrufen, sollte es die Lage für ratsam erscheinen lassen.“ Außerdem wurde beschlossen, die deutsche Polizei ebenso wie die Wärter in den Gefängnissen zu bewaffnen. Dies scheint nötig zu sein, an kleinen Kriminalgeschichten ist kein Mangel: Eine Familie aus Lübars muss sich wegen Einbruchs vor Gericht verantworten, Vater und Sohn klauten Kleidung, Wäsche, Tabak und Lebensmittel, die brave Mutter verstaute und verkaufte das Diebesgut. In den nördlichen Vororten wurden Christbaum-Diebe gestellt, „alle Bäumchenträger, die den Bahnhöfen zustrebten, wurden angehalten und mussten die Herkunft der Tannenbäume nachweisen. In fast allen Fällen waren die Bäume in den nahen Wäldern gestohlen worden. Einige der Diebe hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Forst aufzusuchen. Sie hatten sich aus den Parkanlagen, ja, sogar aus Vorgärten Edeltannen besorgt“. (Ein Jahr später sollte ein extrem harter Winter die frierenden Berliner aus Not auf der Jagd nach Brennholz in die Waldungen treiben). Was blühte, war der Schwarzhandel: „Bei der großen Razzia gegen den Brunnenmarkt wurden insgesamt 4300 Personen kontrolliert. Davon hatten sich 800 am Schwarzhandel beteiligt.“

Brauchten sie Geld fürs Theater? Das kulturelle Leben der Stadt glänzte schon wieder wie die über den Krieg geretteten Kugeln am Baum. Heiligabend wird traditionell nirgendwo gespielt, aber dann, zwischen den Jahren: In der Staatsoper sind Rigoletto und Eugen Onegin an beiden Feiertagen ausverkauft, zum „1. Friedens-Silvester“ gibt es ein Konzert, und im Deutschen Theater stehen Hamlet, Nathan und die Schule der Frauen auf dem Programm. Wir zählen 26 Spielstätten, die zumeist mit dem Zusatz „Das Theater ist geheizt“ ihr Publikum umwerben. An Stars ist dabei kein Mangel. Rudi Schuricke singt, Olga und Ada Tschechowa, Walter Gross, Hilde Körber, Paul Henckels, Rudolf Platte, Aribert Wäscher spielen. Und die Neue Scala sucht Girls, die Hoffnungen und Träume beim Vortanzen sind zwischen 14 und 42 Jahre alt. Auch einige kleine Weihnachtsmärkte sind wieder da, der größte im Lustgarten, da drehen sich ein paar Karussells, an den Buden gibt es Hampelmänner aus Pappe oder selbst gemachte Stofftiere, Malzkaffee. Und gegen eine 50-Gramm-Fleischmarke und 35 Pfennige bekommt man eine Bockwurst.

Und zum Schluss bauen wir noch eine Brücke über 60 Jahre in die Gegenwart. In einer Tagesspiegel-Annonce teilen am 24. Dezember 1945 ein Dr. Theodor R. und eine cand. med. Jutta D. frohen Herzens mit, dass sie sich verlobt haben. Wir wittern eine kleine Geschichte, suchen im Telefonbuch den Herrn R., finden einen Eintrag unter den vielen Rs. und wählen, erwartungsvoll. Siehe da, die Witwe R. ist am Apparat. Ihr Mann, Jahrgang 1915, starb vor elf Jahren. Als er sich 1945 verlobte, war er 30, wahrscheinlich ein Draufgänger, denn er ist aus russischer Gefangenschaft geflohen. So weit die Füße tragen. Die damals annoncierte Verlobung ging nach zwei Jahren in die Brüche, der Grund: Die Dame konnte nicht mal Kaffee kochen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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