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Berlin: Aussortiertes gehört ins Regal

Seit Januar gibt es in der Markthalle IX in Kreuzberg kostenloses Essen.

In der Markthalle Neun in Kreuzberg herrscht an diesem Nachmittag ruhiger Betrieb. Der Bäcker vorne links verkauft Kaffee, einige Besucher sitzen an den hölzernen Tischen und lesen, andere tragen ihre Einkäufe hinaus. Julia Pötzl fällt hier kaum auf. Dabei trägt sie in mehreren Gängen große schwere Holzkisten und bis oben gefüllte Plastiktüten in die Halle. In ihren Behältnissen türmen sich rote Beete, Pastinaken, Sauerkraut, Dutzende Salatköpfe und Brötchen. Die 31-Jährige laviert sie rechts am Fotoautomaten vorbei in die Ecke, wo ein Kühlschrank und zwei Regale stehen – „Fair-Teiler“ haben sie diese Station genannt.

Dort ordnet Pötzl ihre Waren fast liebevoll ein. Am Ende ist das Regal komplett gefüllt. Zu Hause wird sie in der Facebook-Gruppe der „Lebensmittel-Retter“ eine Nachricht posten: „Habe gerade das Regal aufgefüllt mit Gemüse und Brötchen.“ Alles stammt von der „Bio Company“. Es sind Lebensmittel, die nicht mehr verkauft werden können, weil sie etwa Druckstellen oder welke Blätter haben. Ohne Pötzl wären sie verdorben.

Seit Januar steht der „Fair-Teiler“ in der Kreuzberger Markthalle. Einmal gefüllt, dauert es nur wenige Stunden, bis die Regale wieder leer sind. Jeder, der nichts gegen Obst mit Schönheitsfehlern hat, kann sich bedienen – ob bedürftig oder nicht. Es geht darum, Lebensmittel zu retten, die essbar, jedoch nicht mehr verkaufbar sind und deswegen weggeworfen werden. Dafür braucht es Menschen wie Pötzl, die zu den Supermärkten fahren. Aber auch jeder andere, der überflüssiges Essen zu Hause hat, kann es im „Fair-Teiler“ zur freien Verfügung stellen.

Der Kühlschrank gehört zu einem „Foodsharing“-Projekt. Die dazugehörige Internetseite ist wie berichtet im vergangenen Dezember online gegangen. Jeder kann über diese Plattform überschüssiges Essen und Trinken verschenken. Nur knapp vier Monate nach dem Start hat das Portal schon mehr als 10 000 Nutzer.

In Berlin hat „Foodsharing“ ein solides Fundament. Schon seit März 2012 steht die Facebook-Seite der Berliner „LebensmittelretterInnen“ um Raphael Fellmer online. Der Gründer lebt seit drei Jahren ohne Geld. „Die Wertschätzung für Essen ist bei uns verloren gegangen“, sagt er zum Projekt. Dabei fühlten sich die meisten Menschen schlecht, wenn sie Lebensmittel verschwenden. „Wir wollen die Menschen deshalb dazu führen, selbst aktiv zu werden.“ Fellmer macht es vor: Vor einem Jahr sprach er eine Filiale der „Bio Company“ auf das Lebensmittel-Retten an. Die Mitarbeiter fanden die Idee gut und waren dabei. Seit neun Monaten kooperiert die gesamte Kette mit dem Projekt. 

Bei der „Bio Company“ gibt es schon seit längerem ein mehrstufiges System zum Umgang mit Lebensmitteln. Vor Ablauf des Mindeshaltbarkeitsdatums werden die Waren um bis zu 50 Prozent reduziert. Was trotzdem nicht verkauft wird, können Mitarbeiter dann mit nach Hause nehmen. Dieses Verfahren sei laut Company-Sprecherin Imke Sturm bei vielen Einzelhändlern aus Angst vor Manipulationen verboten. Außerdem fahren Mitarbeiter von Tafeln und anderen wohltätigen Organisationen bei „Bio Company“ Berge von ungenutztem Essen ab. Erst was dann noch übrig bleibt, bekommen die Lebensmittel-Retter. Pötzl hat sich diesen Rest an diesem Tag mit vier anderen Lebensmittel-Rettern geteilt – und es reichte immer noch, um den „Fair-Teiler“ zu füllen. Auch wenn die Resteverwertung dieses Mal fast optimal war: Meist läuft es anders. In Deutschland wandern jedes Jahr elf Millionen Lebensmittel in den Müll. Das geht aus einer Studie der Universität Stuttgart vom März 2012 hervor. Das heißt: Jedes achte Lebensmittel wird weggeschmissen. Dabei sammelt allein die Berliner Tafel in der Stadt monatlich 1000 Tonnen nicht verkaufter Lebensmittel von Supermärkten ein, so die Vorsitzende Sabine Werth. Auch Lebensmittel mit überschrittenem Mindesthaltbarkeitsdatum  dürfen dabei sein, wenn die Tafel das deutlich kennzeichnet.

Trotzdem gibt es immer noch Restbestände. Unter dem Vorwand, dass sie alles an die Tafel geben würden, weigerten sich viele Supermärkte aber immer noch, Aussortiertes zu verteilen, sagt Fellmer. „Wenn man in die Tonnen schaut, sieht man oft noch gute Sachen“, sagt Pötzl. Sie selbst hat auch einen Biosupermarkt angesprochen, der aber nicht mitmachen wollte. „Die wollen wohl dieses ,Die essen Müll’-Image nicht“, vermutet sie. Deshalb geht sie manchmal „containern“.  Zuletzt hat sie in den Tonnen eines Supermarktes sieben Kilo Mandeln entdeckt – sie waren laut Etikett noch länger als ein Jahr haltbar.

Weitere Informationen unter:

www.foodsharing.de

Valerie Schönian

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