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Prof. Dr. Jochen Oltmer, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück, erzählt über die deutschen Auswanderungswellen

© Olmert

Auswanderung: Warum die Gründer von Berlin keine Berliner waren

Berlin ist großartig. Doch es ist nicht einzigartig. Über hundert Berlins gibt es rund um den Globus. Städte, kleine Dörfer und Orte, die aus kaum mehr als einer Hütte und einem Komposthaufen bestehen. Inseln sind nach Berlin benannt, Wasserfälle, Berge und sogar ein aktiver Vulkan.

Wir haben die Berlins dieser Welt zusammengetragen und die spannendsten Hintergründe recherchiert. Doch wem verdanken diese Orte ihren berühmten Namen? Im Interview erklärt Prof. Dr. Jochen Oltmer, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Osnabrück, wohin Deutsche auswanderten – und warum die meisten Berlins gar nicht von echten Berlinern gegründet wurden.

Herr Oltmer, woher kommen so viele Namensvettern?

Es gibt zwei Typen von Berliner Stadtgründungen. Auf der einen Seite gib es tatsächlich Siedlungen, die von Menschen aufgebaut wurden, die den Namen aus ihrer Heimat – sprich Berlin – mitgenommen haben. Das ist aber der Ausnahmefall. Der Regelfall ist, dass für Orte Namen gewählt worden, die für das Herkunftsland stehen. Gab es beispielsweise viele Deutsche aus unterschiedlichen Teilen Deutschlands innerhalb einer Gemeinde, so passierte es nicht selten, dass sie einen Namen wählten, der für sie und ihr Herkunftsland repräsentativ war.

90 Prozent der deutschen Auswanderer sind in die USA, Kanada, Australien und Neuseeland gegangen. Nach Mittelamerika und südamerikanische Länder sind keine großen Massen ausgewandert. Dafür aber meist wohlhabende Kaufleute, die dann über Generationen hinweg geblieben sind. Dass einige Orte nach der deutschen Herkunft dieser einflussreichen Händler benannt wurden, ist nicht ungewöhnlich. Aber auch hier waren die Namensgeber häufig gar keine Deutschen. Oft wollte man die Ortschaft nach etwas benennen, mit dem man positive Perspektiven verbindet.

Phasen der deutschen Auswanderung

Warum es nur so wenige Berlins in Afrika, Asien und Australien gibt

Welche Rolle spielte Zuwanderung für Berlin?

Berlin hat im 19. und 20. Jahrhundert wahnsinnig expandiert. Um 1800 gab es in Deutschland zwei Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern – Berlin und Hamburg. Berlin hatte etwas mehr als 200.000. Im 19. Jahrhundert sind es schon mehr als 40 Großstädte. Berlin erlebt massenhaft Zuwanderung erlebt, wird eine Viele-Millionen-Stadt noch vor dem Ersten Weltkrieg. Und wo es Zuwanderung gibt, gibt es auch Abwanderung – natürlich auch ins Ausland. Der allergrößte Teil der deutschen Auswanderer stammt aber aus den ländlichen Gebieten. Auswanderer aus den Großstädten wie Berlin spielten – relativ gesehen – so gut wie keine Rolle. Berlin war vielmehr eine Alternative zu einem neuen Leben in Übersee. 6 Millionen Deutsche haben die Heimat im 19. Jahrhundert verlassen. Ziel waren vor allem die Vereinigten Staaten.

Die meisten Berlins finden sich in den USA, Mittelamerika, Kolumbien, Bolivien und Venezuela. Warum haben ehemals deutsche Kolonien in Afrika keine Berlins vorzuweisen?

Es hat schlicht keine nennenswerte deutsche Auswanderung nach Afrika gegeben. Zwar hatte Deutschland Kolonien in Afrika, aber es hat keine starke Siedlungskolonisation gegeben. Es gab ein paar Tausend Menschen, die in Deutsch-Südwestafrika gesiedelt haben; das war es aber auch. Ebenso hat es kaum Möglichkeiten gegeben, Siedlungen in Asien zu etablieren. Die einzig bedeutende deutsche Zuwanderung außerhalb Amerikas hat noch Australien zu verzeichnen. Allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Da war die große Zeit der Städtegründung schon vorbei.

Was sind die Gründe für die Abwanderung?

Im Zuge der Industrialisierung kam es zu einem hohen Bevölkerungswachstum, das nicht einherging mit einem adäquaten Arbeitsplatzwachstum. Die Menschen haben keine Arbeit gefunden und hatten die Hoffnung, in den USA wird es besser. Aber es ist nicht so, als wenn die Ärmsten der Armen ausgewandert wären. Auch hier gilt: Armut behindert.

Dennoch zählen die Deutschen mit zu den stärksten Auswanderern Europas – neben Briten, Italiener und Bewohnern des Zarenreiches. Ganz im Gegensatz zu Frankreich, wo es im 19. Jahrhundert nur ein relativ geringes Bevölkerungswachstum gegeben hat.

Gibt es noch heute Exilgemeinden von deutschen Auswanderern im Ausland?

In den USA gehören die Deutschen zu den ersten Einwanderern. Deutschstämmige Amerikaner leben also schon über Generationen hinweg in den Vereinigten Staaten. Deutsche Gemeinschaften, die ihre deutsche Kultur gepflegt haben, sind nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stark unter Druck geraten. Das Vereinswesen und die deutschsprachige Presse sind zerschlagen worden oder haben sich selbstständig aufgelöst.

Es gibt ein paar versprengte Ansiedlungen in Südamerika, wo die Erinnerungen an eine deutsche Kultur nach wie vor existieren. Aber das sind absolute Ausnahmen.

Michel Penke

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